Nightwish
Decades – Live In Buenos Aires
|
|
|
Nightwish-Chefdenker Tuomas Holopainen zählte lange Zeit eher zu den Menschen, deren Blick konsequent nach vorn gerichtet war, wenn es um das Schaffen der eigenen Band ging. Die Live-Setlisten wurden dementsprechend klar vom Material des jeweiligen aktuellen Albums dominiert, und erst allmählich begann der Finne, Spaß daran zu haben, gelegentlich auch mal einen lange nicht gespielten Oldie zu exhumieren und der Anhängerschaft somit das eine oder andere Bonbon aus der Vergangenheit zu servieren. Beim Rezensenten rannte er damit selbstredend offene Türen ein – so stark die Alben bis einschließlich Imaginaerum auch sind, so (positiv!) überrascht man immer wieder war, dass der Fast-Alleinkomponist das Unmögliche abermals möglich gemacht und immer noch eins draufgesetzt hatte, so klar ist eben auch die zeitlose Qualität der Frühwerke, und dass der Zweitling Oceanborn, mit dem der Rezensent die Band weiland kennenlernte, in der Alltime-Fave-Liste immer noch Platz 3 belegt (hinter dem Seraphim-Zweitling The Equal Spirit und dem HammerFall-Debüt), spricht Bände für die These, der Rezensent könnte sich über diesen zeitweise rückwärtsgewandten Blick durchaus freuen. Zur konsequenten Strategie wurde dieser Blick seitens Holopainen aber erst mit der Best-Of-Scheibe Decades, deren Spektrum nicht nur bis zum Debüt Angels Fall First zurückreicht, sondern sogar den Song „Nightwish“ vom ersten Demo berücksichtigt, der später auf keiner regulären Veröffentlichung auftauchte. Der Rezensent freute sich den sprichwörtlichen Ast, als bekanntgegeben wurde, dass mit dem Decades-Programm auch eine Tour stattfinden und Leipzig eine von deren Stationen bilden würde – den Bericht vom Gig am 16.11.2018 kann der Interessent auf diesen Seiten nachlesen und stellt dort fest, dass es neben den anhand der Decades-Tracklist erwartbaren Überraschungen noch einige zusätzliche gab, mit denen nun ganz und gar nicht zu rechnen war.
In den letzten Jahren ist es bei Nightwish allerdings zur Tradition geworden, jede Tour auch mit einem Livemitschnitt zu dokumentieren – und erfreulicherweise reißt diese Tradition auch mit der Decades-Tour nicht ab. Der Untertitel der vorliegenden Digipack-Doppel-CD (es gibt wie üblich auch diverse andere Formate, auch audiovisueller Art) macht bereits klar, dass Nightwish nicht dem Weg diverser Kollegen folgen und aus verschiedenen Tourgigs ein Programm zusammenstückeln, das es so nirgendwo zu hören gegeben hat, sondern die klassische Methode zur Anwendung brachten: Es gibt genau einen Gigmitschnitt, und ähnlich wie neulich bereits Helloween wählten auch Nightwish ein spanischsprachiges Land, in diesem Falle allerdings Argentinien, wo sie am 30.09.2018 im Estadio Malvinas (also im politisch etwas heikel benannten Falkland-Stadion – kein Fußballstadion übrigens, sondern eine Basketballhalle, allerdings mittlerweile mit stärkerer kultureller als sportlicher Nutzung) in Buenos Aires gastierten. Der Fakt, dass es sich um das Heimatland des Gatten der bekanntlich im Unfrieden geschiedenen Ur-Sängerin Tarja Turunen handelt (und besagter Gatte hatte an der seinerzeitigen Auseinander-Entwicklung auch einen gewissen Anteil), ist allen Beteiligten offenbar herzlich egal und den anwesenden Gauchos ganz besonders – schon nach „Come Cover Me“ beginnt das Publikum mit „Olé, olé“-Sprechchören, und den Countdown im Showintro hat es auch bereits chorisch heruntergezählt, nur um ähnlich überrascht zu werden wie der Rezensent anderthalb Monate später in Leipzig (er hatte weiland bewußt im Vorfeld keine Reviews gelesen oder Setlisten gecheckt): Nightwish beginnen den Gig nicht mit einem großen Paukenschlag, sondern Troy Donockley solistisch das traumhafte „Swanheart“ spielen lassend. Dass der Flötist die Töne hier und da ein wenig zu sehr umspielt und die Linie nicht ganz so klar nimmt wie erhofft bzw. von der Studiovorlage her vorgesehen – geschenkt: Die Atmosphäre ist hier an Fragilität kaum zu überbieten, und diese Aussage gilt für den Leipzig-Gig wie für die Buenos-Aires-Konserve. Im weiteren Hören der zweistündigen Doppel-CD findet man zwar immer wieder einzelne Stellen, die man live nicht als Problem wahrgenommen hat, die einem nach ausgiebigem Studium der Konserve aber als nicht ganz optimale Lösung erscheinen – aber erstens ist deren Zahl enorm gering, und zweitens schmälert das die über weite Strecken grandiose Leistung der Band nicht: Live ist eben live, und dass auch ein Perfektionist wie Tuomas Holopainen auf den Livescheiben bisweilen Dinge zur Veröffentlichung freigibt, die nicht hundertprozentig auf der Ideallinie liegen, macht ihn zu einem sympathischen Menschen aus Fleisch und Blut. Und welchen Spaß er auf der Bühne hatte, beweist er etwa in „Sacrament Of Wilderness“, als er mal eben das Hauptthema des brillanten Oceanborn-Openers „Stargazers“ einjammt – der zugehörige Song selbst ist einer von den bereits für eine frühere Tour, nämlich die zum 2015er Endless Forms Most Beautiful-Album (siehe Rezension vom 14.12.2015 auf www.crossover-netzwerk.de), exhumierten und steht diesmal nicht im Set. Das macht freilich nichts, betrachtet man, was statt dessen angeboten wird: „Gethsemane“! „End Of All Hope“!! „Dead Boy’s Poem“!!! „Devil & The Deep Dark Ocean“!!!! Auch die Obskuritätenfront wird bedient: Zwar stand „Nightwish“ auch in Buenos Aires nicht im Set, das nur auf der Over The Hills And Far Away-EP veröffentlichte „10th Man Down“ aber schon, und das brillante Instrumental „Elvenjig“ greift eine ganz alte Tradition von Nightwish-Gigs auf, als etwa anno 2000 ein gleichfalls instrumentales Doppel fremder Herkunft aus „Crimson Tide“ und „Deep Blue Sea“ erklang (höre die Konserve From Wishes To Eternity). Anno 2018 fungierte das Stück, übrigens eine Bearbeitung eines irischen Traditionals namens „Moneghan Jig“, als Intro für „Elvenpath“, einen der beiden Beiträge vom Debütalbum – der andere ist „The Carpenter“, vokalisiert von Donockley und angesagt als Hit aus China vom Ende des 17. Jahrhunderts, ein Witz, auf den das Auditorium indes kaum reagiert. Auch das macht freilich nichts: Die Energie, die von den Argentiniern in der Gesamtbetrachtung rübergebracht wird, ist überwältigend, die Band nimmt die Steilvorlagen mit Kußhand auf, und gerade in „I Want My Tears Back“ möchte man auch zu Hause gerne aufspringen und wild durchs Zimmer hüpfen. In diesem großartigen Umfeld gelingt es sogar, sich das eher mäßig begeisternde „Élan“ nach etlichen Durchläufen doch noch irgendwie schönzuhören, und nur bei „The Greatest Show On Earth“, wo man das live mit Unterstützung der Bildrückwand schaffte, ist der Schönhörversuch der Tonkonserve vergebliche Liebesmüh‘: Man freut sich über die exakt zwei genialen Momente des Stückes, nämlich das brillante Hauptthema und die naturgemäß besonders live wirkungsvolle „We were here!“-Mitshoutpassage, aber der Rest der hier zu hörenden knapp siebzehnminütigen Fassung glänzt zumindest in der reinen Audioversion durch weitgehende Abwesenheit irgendeiner Form von nachvollziehbarer Dynamik und Spannung. Wie das besser, viel besser geht, zeigt die Band gleich im Anschluß, als der Setcloser „Ghost Love Score“ all das bietet, was sein Vorgänger vermissen lassen hat, und wie das besser, viel besser, nein, sehr viel besser geht, war einige Nummern zuvor in überwältigender Form erlebbar: Was Nightwish in dieser Version von „Devil & The Deep Dark Ocean“ abziehen, ist Dramatic Metal in Großmeisterschaft, und allein für diesen Song in dieser Fassung mit einem Marko Hietala, der immer kurz vorm Overacting steht, aber diese Grenze eben nicht überschreitet, lohnt sich der Erwerb dieser Doppel-CD, unabhängig davon, ob man die Tour selber gesehen hat oder nicht. Für alle, denen das nicht reicht, gibt es auch noch etwas „Normalprogramm“ Marke „Wish I Had An Angel“, „Amaranth“ oder natürlich „Nemo“, und man stellt überrascht fest, dass selbst „Slaying The Dreamer“, einer der ganz wenigen nicht so prickelnden Nightwish-Songs, in Argentinien offenbar einen ganz besonders hohen Stellenwert besitzt, nimmt man den Jubelfaktor als Indikator, als das erste Riff dieser Nummer erklingt, plaziert übrigens nach „Nemo“. Falls jemand von den deutschen Tourbesuchern über die Nennung von „Amaranth“ gestolpert ist – das ist einer von zwei Unterschieden der Buenos-Aires-Setlist zur Leipziger, wo an dessen Stelle „Last Ride Of The Day“ erklang (der Austausch von „End Of All Hope“ gegen „Dark Chest Of Wonders“ ist der andere). So stark der letzte Ritt des Tages auch ist, so gern man ihn live hört – „Amaranth“ paßt von der Setdynamik her besser an diese Stelle, denn beide Fröhlich-Herumspring-Hits der Imaginaerum-Scheibe direkt hintereinander serviert zu bekommen ist trotz all ihrer Klasse doch ein wenig anstrengend, und so ergibt „Amaranth“ an dieser Stelle ein geringfügig besseres Bild. Aber das ist ein „Problem“, für das andere Bands ihre Großmütter verkaufen würden, und es waren schließlich auch in Leipzig genug Jungspunde und vor allem -spundinnen anwesend, die prinzipiell ein ähnliches Energielevel aufbauen können, wenngleich halt vielleicht doch nicht mit der ganzen südländischen Intensität, die hier auch auf Konserve gebannt werden konnte – eine nicht leichte Aufgabe, von der Technikfraktion hier aber exzellent gelöst, und selbst das eigenartige leere Gefühl, als nach dem Ende von „Ghost Love Score“ noch die hinteren Teile von „The Greatest Show On Earth“ als Konservenoutro bzw. Rausschmeißer vom Band kamen, wird mit deren erster Minute (in der Tracklist nicht ausgewiesen) hier zumindest angedeutet.
Ansonsten herrscht business as usual: Kai Hahto trommelt an einigen Stellen einen Tick lockerer als Jukka Nevelainen und trägt damit sein Scherflein zum positiven Unterhaltungswert bei, wobei die Doublebass hier paßgenau eingemischt ist und damit nicht so vorschmeckt wie bisweilen in Leipzig, Emppu Vuorinen tritt nur gelegentlich ins akustische Rampenlicht, gestaltet diese Passagen aber mit phantastischem Spiel (die Finalmelodie von „Devil & The Deep Dark Ocean“, meine Güte!!!!) und macht ansonsten das, wofür er als Gitarrist da ist, und Troy Donockley setzt hier und da kleine Glanzlichter („Nemo“!), ist in der Konserve ein wenig deutlicher zu hören als in der Konzerthalle und hat sein Mitwirken wie erwähnt allein schon mit „Swanheart“ mehr als gerechtfertigt, wobei man freilich auch seine Rollen in den mehrstimmigen Gesangsarrangements und als Vuorinens Partner in diversen Doppelleads herausheben muß. Über Konditionswunder Floor Jansen schließlich fallen die Lobeshymnen noch enthusiastischer aus als im Livereview – ja, man muß sich ihre Gestaltung bestimmter Passagen aus der Turunen- oder Olzon-Ära schrittweise erschließen, und manche macht dabei mehr Arbeit als andere, aber die Vielfalt überzeugt ohne Wenn und Aber, die Power sowieso (die hohe Schlußpassage in „Ghost Love Score“!!!!!), und auch die vokale Interaktion besonders mit Hietala, aber wie erwähnt auch mit Donockley gelingt noch einmal besser als im Studiomaterial (!) von Endless Forms Most Beautiful, wo sich Jansen und Hietala stimmlich eher im Wege standen, als sich zu ergänzen. Wie das auf dem neuen, bereits in den Startlöchern stehenden Studiowerk Hvman. :||: Natvre. ausfallen wird, bleibt gespannt abzuwarten – bis dahin aber lohnt Decades – Live In Buenos Aires den Erwerb für jeden Freund hochklassigsten Orchestermetals definitiv.
Roland Ludwig
Trackliste |
CD 1
1. Swanheart (02:50)
2. End Of All Hope (04:01)
3. Wish I Had An Angel (04:20)
4. 10th Man Down (05:28)
5. Come Cover Me (05:48)
6. Gethsemane (05:42)
7. Élan (04:27)
8. Sacrament Of Wilderness (04:23)
9. Deep Silent Complete (04:20)
10. Dead Boy’s Poem (06:50)
11. Elvenjig (02:50)
12. Elvenpath (05:55)
13. I Want My Tears Back (05:25)
CD 2
1. Amaranth (04:42)
2. The Carpenter (06:07)
3. The Kinslayer (04:18)
4. Devil & The Deep Dark Ocean (04:56)
5. Nemo (04:55)
6. Slaying The Dreamer (05:12)
7. The Greatest Show On Earth (16:59)
8. Ghost Love Score (11:55)
|
|
|
|
|
Besetzung |
Floor Jansen (Voc)
Troy Donockley (Voc, Git, Uillean Pipes, Low Whistles, Bouzouki)
Emppu Vuorinen (Git)
Tuomas Holopainen (Keys)
Marko Hietala (B, Voc)
Kai Hahto (Dr)
|
|
|
|