Bleeding
Elementum
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Die Encyclopedia Metallum spuckt eine Handvoll Bands namens Bleeding aus, und zwar überwiegend solche, die sich den extremeren Metalspielarten verschrieben haben. Das hier ist die einzige Ausnahme, und wenn man weiß, dass das vierte und für lange Zeit letzte Psychotic-Waltz-Album als Bandnamensgeber für die norddeutsche Formation herhalten mußte, ahnt man auch, dass man hier möglicherweise mit progressivem Metal und/oder Prog Metal (das ist bekanntlich nicht automatisch ein und dasselbe) zu rechnen hat, wozu dann auch der Umstand paßt, dass Bleeding innerhalb der Pure-Steel-Labelfamilie auf Pure Prog Records gelandet sind. Bereits ein flüchtiges Hineinhören in „When They Come“, den Opener des Zweitlingsalbums Elementum (der Erstling Behind Transparent Walls liegt noch irgendwo auf dem großen Stapel der Ungehörten) offenbart die Korrektheit der Vermutung – nach dem ersten Durchlauf der 52 Minuten ist aber auch noch etwas anderes klar: So enge Verbindungen Bleeding auch zu Psychotic Waltz haben, sie kopieren die Amerikaner nicht, und selbst wenn sich diverse Einflüsse nicht verhehlen lassen, so stammen diese eigentümlicherweise eher nicht vom Bleeding-Album, auf dem Psychotic Waltz sehr komprimiert und mit recht moderner Gitarrenarbeit („modern“ meint hier in Richtung des zur Zeit der Entstehung des Albums modernen groovigen Metals tendierend) sowie teilweise fast doomangehaucht musizierten, während Bleeding auf Elementum so ziemlich das Gegenteil tun: Die neun Songs dauern im Schnitt knappe sechs Minuten, die Gitarrenarbeit kommt eher aus dem Spätachtziger-Thrash, und doomige Elemente bleiben weitgehend abwesend, wenngleich zumindest Teile des Materials eine angedüsterte Atmosphäre weder verleugnen wollen noch dazu überhaupt in der Lage wären. Marc Nickel und Jörg von der Fecht, die beiden Bleeding-Gitarristen, präsentieren sich allerdings auch als Meister im Einsatz von Halbakustikelementen, die sie geschickt mit kernigem Riffing, aber gelegentlich auch mit einer sehnsuchtsvollen Leadgitarrenlinie (die Coda von „Immortal Projection“ und gleich auch noch die von „Paranoia“!) koppeln. Dass sie in „Heir To Apostasy“ aber mal eben einen impressionistischen Akkord einwerfen, wie das die verblichenen Leipziger Metaller Nitrolyt im nur wenige Sekunden dauernden zweiten Satz ihrer Instrumentalparodie „Symphonie Des Liquides Organiques“, betitelt „Hommage Á Debussy“, taten, dürfte purer Zufall sein. Kein Zufall hingegen ist das Auftauchen bestimmter anderer Bands bzw. Musiker in der Dankesliste: Psychotic Waltz stehen dort naturgemäß an prominenter Stelle, aber gleich danach kommt Kenn Nardi, und den kennt der Anspruchsmetaller natürlich noch von Anacrusis, die gleichfalls zu den Bands zählen, welchselbige ein paar Spuren im Sound von Bleeding hinterlassen haben – der latente Spätachtziger-Thrash-Tonfall der Rhythmusgitarrenarbeit könnte dazu zählen. Neben Lanfear und Life Artist (verkannte bis sehr verkannte deutsche Progmetalprotagonisten) finden wir dann allerdings auch noch Poverty’s No Crime, und die teilen mit Bleeding nicht nur die norddeutsche Herkunft, sondern auch gleich noch die Rhythmussektion: Heiko Spaarmann und Andreas Tegeler sind zwar, so zumindest die Auskunft der Credits im Booklet, bei Bleeding nicht am Songwriting beteiligt, aber ihren Stempel drücken sie dem Material zumindest in gewisser Weise natürlich trotzdem auf. Und wenn Sänger Haye Graf mal eine Tonlage wählt, die der typischen von Volker Walsemann ähnelt, dann grinst der Freund anspruchsvollen Metals in sich hinein und nickt wissend mit dem Kopf.
Freilich haben wir auch hier keinesfalls eine Kopistensituation vor uns. Bleeding arbeiten mit zwei Gitarren, aber ohne Keyboarder (es gibt hier und da lediglich ein paar Effekte), und ihre Grundhärte, -düsternis und -komplexität liegen allesamt zumeist ein Stück höher als die der Walsemann-Crew, so dass also selbst die Passagen, wo Graf ein wenig wie Walsemann klingt, markant unterscheidbar sind. Aber die bisher gewählten Formulierungen deuten noch etwas anderes an: Graf legt seine Vocals ziemlich vielseitig an, mal klar, mal leidend, mal shoutartig appellierend, mal hysterisch – da läßt wiederum die Vielfalt von Kenn Nardi grüßen, wenngleich der noch einen Tick extremer agierte. Aber auch Graf liebt es offensichtlich, seine Stimme wie ein Theaterschauspieler einzusetzen (was der auch ist - Anm. MK), was speziell in „Paranoia“ dann zu einer enormen Rollenvielfalt führt, an die man sich erst gewöhnen muß, weil das im Metal eher eine seltene Erscheinung darstellt. Hingegen überrascht „Macbeth“ damit, eher wenig Raum für solche theatralischen Experimente zu bieten, obwohl man sie rein vom Sujet her hier vielleicht noch am ehesten erwartet hätte. Bleeding spielen also offensichtlich bewußt mit den Erwartungshaltungen des Hörers und unterlaufen diese ab und zu mal, ohne freilich den Hörer komplett gegen die Wand prallen zu lassen – da sind allein schon diverse durchaus merkfähige Refrains vor, etwa der sehr eindringliche von „Sense And Science“, und dann wissen wie bereits erwähnt die Gitarristen auch, was Klangschönheit ist. Sowas wie Hits gibt es hier freilich trotzdem nicht, wenngleich sich so manche Passage auf Umwegen ins Hirn schleicht – aber Elementum funktioniert als Gesamtkunstwerk trotzdem am besten und ist als solches zugänglich genug, um den progmetalungewohnten Hörer nicht gleich wieder abschalten zu lassen, und anspruchsvoll genug, um auch dem progmetalgewohnten Hörer einiges zu bieten, wenn er denn nicht der Fraktion angehört, die den Terminus wörtlich nimmt und hier fortschrittliche, noch nie dagewesene Klänge erwartet: Bleeding spielen Prog Metal, aber keinen progressiven Metal. Und weil wir gerade beim Stichwort „Unterlaufen von Erwartungen des Hörers“ sind: Der Titeltrack Elementum hebt mit einem Filmzitat an und entpuppt sich dann als flottes traditionsmetallisches Instrumentalstück von gerade mal drei Minuten Dauer und nicht bei Null liegender, aber doch eher überschaubarer Breakdichte, wobei man hier an einer Stelle hintergründig mal eine eingemischte Hammondorgel wahrzunehmen glaubt. Da sprüht der Witz ganz konzentriert aus den imaginären Rillen auf der Platte, da zaubern die Gitarristen vielleicht noch einen Tick enthusiastischer als sonst – aber im Intro des Closers „Shipwrecked“ wollen sie dieser Vorgabe dann gleich nicht nachstehen. Und der furchtbar schräge Gitarreneinstieg zwischen Strophe und Refrain dürfte auch irgendeine Funktion erfüllen, wenngleich sich dem nautisch unerfahrenen Rezensenten das nicht bis in alle Einzelheiten erschließt – er muß sich da mit Feststellungen begnügen, dass einige der Leadlinien onomatopoetisch auf die Anmutung von wild wogendem Wasser abzielen dürften. Da hätte auch der alte Wagner nicht nein dazu gesagt, womit wir wieder beim Thema Theater wären. Man kann Elementum auch ohne spezielle Theateraffinität stark finden, aber eine solche hilft beim Erschließen vielleicht noch ein wenig.
Nebenbemerkung: Von den zwei Menschen, die die Bandfotos im Booklet beigesteuert haben, hört der eine auf den Namen Mario Karl – sollte das unser geschätzter MAS-Redaktionskollege sein? (Da hast Du richtig vermutet, lieber Roland ;-) - Anm. MK)
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | When They Come | 5:31 |
2 |
Heir To Apostasy | 5:20 |
3 |
Immortal Projection | 6:47 |
4 |
Paranoia | 8:58 |
5 |
MacBeth | 4:35 |
6 |
Sense And Science | 6:26 |
7 |
Ember | 5:19 |
8 |
Elementum | 3:11 |
9 |
Shipwrecked | 5:58 |
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Besetzung |
Haye Graf (Voc)
Marc Nickel (Git)
Jörg von der Fecht (Git)
Heiko Spaarmann (B)
Andreas Tegeler (Dr)
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