Musik an sich


Reviews
Bach, J. S. (Kuijken)

Johannespassion


Info
Musikrichtung: Barock Oratorium

VÖ: 08.03.2012

(Challenge / Challenge / 2 SACD / 2011 / Best. Nr. CC72545)

Gesamtspielzeit: 105:14



LUZIDE DRAMATIK

Nach der „Matthäuspassion“ hat La Petite Bande nun auch J. S. Bachs Johannes-Passion mit einfacher Vokalbesetzung eingespielt. Sicherlich wird diese Lesart die Hörergemeinde erneut spalten und Diskussionen um eine stimmige Aufführungspraxis weiter befeuern.
Trägt die Matthäus-Passion alle Züge eines klassisch ausgereiften Meisterwerks, so ist die Überlieferungssituation bei der Johannes-Passion komplizierter. Ensembleleiter Sigiswald Kuijken hat sich für die 1. Fassung mit dem bekannten monumentalen Eingangschor Herr, unser Herrscher und den eher zurückhaltenden, betrachtenden Arienversionen entschieden. In dieser Form ist die Johannes-Passion weithin am bekanntesten.

Die Musiker setzen erneut auf eine ganz natürliche, unforcierte Darstellung, die sich durch eine große Klangschönheit auszeichnet. Die vokalen und instrumentalen Linien scheinen manchmal wie mit dem Silberstift gezeichnet: ein Renaissance-Bach.
Unter den historisch argumentierenden Kleinbesetzungen ist dies diejenige, die mit den geringsten Kräften auskommt. So verzichtet die Besetzung bei den in Septett-Formation antretenden Streichern auf ein 16-Fuß-Instrument zugunsten von zwei basse de violon; bei den Holzbläsern fehlt das sonst standardmäßig eingesetzte Fagott. (Philippe Pierlot besetzt das Orchester in seiner Einspielung stärker und konventioneller u. a. mit zwei Fagotten, zwei Violen, Celli und Kontrabass, außerdem prägt ein Cembalo das Klangbild). Kuijken orientiert sich am überlieferten Orchestermaterial, gibt allerdings zu, dass einige der Instrumentalangaben wie z. B. „bassono grosso“ (ein riesiges Kontrabaßfagott?) rätselhaft seien – der ausgesprochen lichte Klang des Instrumentalensembles mag also zumindest in diesem Fall nicht der Weisheit letzter Schluss sein, zumal jene Momente, in denen Bach mit fast schon plakativer Bildmächtigkeit das Zerreißen der Felsen und Beben der Erde zeichnet, in dieser Version eher angedeutet wirken.

Musikalisch gibt sich die Johannes-Passion insbesondere in den Szenen vor Pilatus leidenschaftlicher und ungebärdiger als die Matthäus-Passion, verfügt aber noch nicht über das ausgefeilte instrumentale Kolorit und die Doppelchörigkeit des späteren Werkes. Weithin trägt allein das Streicherensemble das Geschehen. Hat man erst einmal den kleinen Besetzungsmaßstab akzeptiert, so ist diese Einspielung dramaturgisch überzeugend ausbalanciert und musikalisch aus einem Guss. Im Ganzen bietet sie eine zwischen Dramatik und Kontemplation sich bewegende, essentiell verdichtete Lesart der Johannes-Passion.
Das eigentliche Passionsgeschehen, also die Szenen im Garten Gethsemane, vor dem Hohenpriester und vor Pilatus, werden dramatisch nuanciert entfaltet, während die Arien vom sehr schön disponierten SängerInnen-Quartett des Konzertistenchores zwar innig, aber eher verhalten expressiv dargeboten werden. So klingt die Reue-Arie Ach mein Sinn, wo willt du hin, in der sich der Sturm und Drang einer zukünftigen Generation ankündigt, eher retrospektiv, wie ein aufgewühltes barockes Lamento (wobei die trostlose Verwirrung des Petrus, die Bach durch einen verwickelten, gegenläufigen Kontrapunkt unterstreicht, schön herausgearbeitet wird). In der Bassarie mit Chor Mein teurer Heiland, lass dich fragen bleibt der Ripieno-Choral allerdings doch ein wenig blass und ist kaum mehr als eine Farbe im Hintergrund – anders als in dem dialogischen Gegenstück Eilt, ihr angefochtenen Seelen, wo der Chor eindringlich interveniert.

Die erregten Turbae-Chöre klingen in dieser Einspielung dagegen nicht nur sehr intonationsgenau, sondern auch durchschlagkräftig – selten hört man dabei Bachs kühne Polyphonie in so kristalliner Klarheit und zugleich mit einer affektiven Vehemenz, die allein aus dem rhythmisch und kontrapunktisch dichten Tonsatz erwächst. Christoph Genz balanciert als Evangelist rhetorische Emphase und Kantabilität aus, während Jens Hamann den Jesus lebendig und mit angemessene Ausdruck zeichnet. Der Pilatus von Walter Testolin bleibt etwas statuarischer; zudem hört man, dass er kein Muttersprachler ist.
Was wie schon in der Einspielung der Matthäus-Passion frappiert, sind die sehr innigen Choräle. Und während der gewaltige Eingangschor durchaus Monumentalität entwickelt, beschließt der Schlusschor Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine das Werk angemessen kontemplativ.



Georg Henkel



Trackliste
SACD I: Teil 1 33:25
SACD II: Teil 2 71:49
Besetzung

Gerlinde Sämann und Marie Kuijken: Sopran
Petra Noskaiová und Patrizia Hardt: Alt
Christoph Genz (Evangelist) und Knut Schoch: Tenor
Jens Hamann (Jesus) und Walter Testolin: Bass

La Petite Band

Sigiswald Kuijken: Gambe und Leitung


 << 
Zurück zur Review-Übersicht
 >>