Stravinsky, I. – Herrmann, O. (Rattle)
Le Sacre du Printemps. Ein Stummfilm zur Musik von Igor Stravinsky von Oliver Herrmann
BILDRITUALE
Schon mancher Choreograph ist an Igor Stravinskys epochalem Ballett Le Sacre du Printemps gescheitert. Mit der klassischen Tanzkunst ist dieser kunstvoll-archaischen Orgie aus klanggewaltigem Blech und ekstatischen Rhythmen nicht beizukommen. Kaum weniger groß ist freilich das Wagnis, diese ungebärdige Musik zur Klangspur eines Stummfilms zu machen! Oliver Herrmann hat sich der Herausforderung gestellt. Herausgekommen ist ein computergestütztes Multimediaexperiment, bei dem bewegtes Bild und Musik eine neue Einheit eingehen, ohne dass das eine zur bloßen Illustration des anderen geriete. Das Ritualopfer, das ursprünglicher Aufhänger für die Balletthandlung war, wird hier in verwandelter Form aufgegriffen: Wo sich bei Stravinsky eine auserwählte Jungfrau zu Tode tanzen muss, ist es hier ein synkretistisches Heilungsritual der Santeria-Religion, das drei seelisch verletzten, neurotischen Großstädtern ins Leben zurückhilft. Die Rahmenhandlung spielt im Himmel, wo Gott – in diesem Fall eine schwarze Frau – in ihrer Küche gerade drei kleine Menschen „backt“. Der Zuschauer wird Zeuge der Schöpfung von Lucia, einer unglücklichen Witwe, die den Tod ihres Mannes nicht verwinden kann, von Esther, einer missbrauchten jungen Frau auf dem Todestrip, und von Dr. Bardot, einem Hirnchirurgen, der von seinen zahllosen Phobien gequält wird. Nachdem die persönliche Tragik der drei Protagonist/innen im ersten Teil in eindrucksvollen Bildern Gestalt gewonnen hat, vollzieht sich im zweiten Teil die Erlösung zum Leben im Rahmen des Santeria-Rituals. Während einer Sonnenfinsternis verschlägt es die drei in einem Wach-Traum auf eine tropische Insel, wo sie, begleitet von seltsamen Schutzgeistern – Zwergen, Albino-Schwarzen – und anderen Kreaturen ihre Katharsis erleben …
Herrmann, der 2003 im Alter von vierzig Jahren gestorben ist, hat die Uraufführung nicht mehr erleben können. Umso schöner ist es, dass es in Berlin unter Beteilung von Sir Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern nicht nur zu einer Serie von erfolgreichen Aufführungen beim 54. Berliner Filmfestival, sondern auch zu einer gut ausgestatteten DVD-Edition mit zahlreichen Extras gekommen ist, die hilfreiches Hintergrund zur Idee und Entstehung des Films sowie einige Interviews bieten. Mit rund 30 Minuten ist der Film selbst sehr konzentriert und fordert mit seinen oft kraftvollen, aber rätselhaften Bilderfindungen die Phantasie und das Einfühlungsvermögen der Zuschauer heraus. Mit seinen sorgfältig choreographierten Bildern und einer durch digitale Effekte unterstützen Videoclip-Ästhetik reagiert Herrmann sensibel auf die Bewegung und Spannungskurve von Stravinskys Musik, deren Eigenleben und Eigenmacht aber stets respektiert wird. Ein aufregend anderes „Bildritual“, das sich von der cineastischen Standardkost eindrücklich abhebt.
Georg Henkel
Besetzung |
Sophie Semin (Esther) Ariadne del Carmen (Lucia) Robert Hunger Bühler (Dr. Bardot)
Oliver Herrmann, Regie David Slame, Kamera Robert Zimmermann, Produzent
Berliner Philharmoniker Ltg. Sir Simon Rattle
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