Musik an sich


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Brel, D. (Brel / Dumestre)

Quatre chemins de mélancolie


Info
Musikrichtung: Zeitgenössische Musik

VÖ: 24.02.2004

Alpha / Note 1 (CD DDD (AD 2003) / Best. Nr. Alpha 509)

Gesamtspielzeit: 61:00

Internet:

Alpha



ÜBER DEN ZEITEN: DANIEL BREL UND POÈME HARMONIQUE VERIRREN SICH IM LABYRINTH DER MELANCHOLIE

Vier Gamben, eine Theorbe und ... ein Bandoneon.
Wahrlich eine eigentümliche Besetzung. Da erklingen die Mode-Streichinstrumente des 16. und 17. Jahrhunderts und ein klassisch barocker Continuo-Vertreter zusammen mit einer "Quetschkommode", deren Ursprünge im frühen 19. Jahrhundert liegen und die man heute am ehesten mit dem Klängen des französischen Boulevards oder des argentinischen Tangos assoziiert.

Den Zweiflern und Puristen sei zur Beruhigung gleich vorweg gesagt: Diese Kombination harmoniert hervorragend. Die obertonreichen Gamben und die sonore Erzlaute mischen sich ganz natürlich mit dem miniaturisierten Orgelklang des Bandoneons. Dies um so besser, als die runde, ausgewogene Akustik des Aufnahmeortes (die Pariser Chapelle de l'hôspital Notre-Dame de Bon Secours) für eine optimale "Orchestrierung" der Klangfarben sorgt. Da glaubt man sofort, dass das Bandoneon in armen deutschen Gemeinden des frühen 19. Jahrhundert als Ersatz für die Pfeifenorgel diente.

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT: BREL UND DUMESTRE

Daniel Brel (* 1950) spielt hier nicht nur das Bandoneon, er hat auch die Musik komponiert. Die ungewöhnliche Besetzung verdankt sich seiner langjährigen Freundschaft mit dem Lautenisten Vincent Dumestre, dem Leiter des Barock-Ensembles Poème Harmonique. Schon lange wollten die beiden einmal ein gemeinsames Projekt realisieren. Nun liegt das Ergebnis vor: Quatre chemins de mélancolie - Vier Wege der Melancholie heißt das Album.
In vier mal vier Stücken schreitet Brel mit den Musikern von Poème Harmonique die Pfade jener Gestimmtheit aus, die Freud als die Unfähigkeit bestimmte, den Verlust eines geliebten Gegenstande oder einer geliebten Person zu bewältigen. Der Melancholiker kann nicht Loslassen. Er verliert sich mit seinem unerfüllbaren Begehren an das Verlorene, das dann, zur fixen Idee geworden, als Erinnerung sein Denken und Fühlen mehr und mehr beherrscht. Leiden, Trauer und schließlich Verzweiflung sind die Folge.

MUSIKALISCHE METAPHERN

Was die musikalische Inszenierung dieser Empfindung angeht, haben Brel und Poème Harmonique wohl ins Schwarze getroffen: Nach dem 2. Stück wurde mein Bedürfnis nach einem schweren, Trost und Vergessen spendenden Rotwein übermächtig.
Schon die Besetzung mit ihrem Rekurs auf die Welt der Alten Musik könnte suggestiver nicht sein: Da sind die Gamben mit ihrem per se introvertierten Lamento-Klang und die Laute, die spätestens John Dowland zum intimen Sänger edelster Melancholie erhoben hat. Dem Bandoneon geht ebenfalls ein ausgesprochen fröhliches Register ab. Und der Tango, dem es seine Stimme leiht, steht mit seiner ambivalenten Passion zwischen Leiden und Leidenschaft.
Brels Musik tut ein Übriges. Obschon die einzelnen Stücke in sich geschlossen und kohärent wirken, lassen sie sich stilistisch nicht einordnen. Dennoch möchte man hier nicht pauschal von einem eklektischen Postmodernismus sprechen. Man könnte es vielleicht so sagen: Brel hält die Vergangenheit in seiner Musik gegenwärtig. Altes und Neues verschmilzt zu einem Genre der musikalischen Erinnerung, das nicht einfach Zitate aneinanderreiht, sondern in einem meist dichten, harmonisch komplexen Satz aufscheinen und wieder verschwinden läßt, ohne sich davon wirklich zu lösen. Das erste Stück Soleil froid bietet dafür ein gutes Beispiel: Man dringt zunächst leicht in die Musik ein, die einem mit ihren neo-tonalen Harmonien und vertrauten Wendungen geradezu entgegenzukommen scheint. Doch aus der akustischen Umarmung wird nichts: Das Stück "zerfließt" vor den Ohren des Hörers wie Wachs; seine Tonalität erweist sich als trügerisch, das Stimmgeflecht ist nachgiebig und zäh wie Treibsand.
Die Musik Brels ist darin zugleich statisch und dynamisch: dynamisch in ihrem Voranschreiten in der Zeit, statisch im manischen Umkreisen ihrer Motive, die dem Barock ebenso wie späteren Epochen, der Kunst- ebenso wie der Volksmusik entlehnt sind. Dass diese gärende musikalische Memoria nicht unbedingt fröhlich, sondern eher weh- und schwermütig gerät, liegt in der Konsequenz der Sache. So gesehen ist das Ergebnis eine perfekte klingende Metapher für jene Melancholie, von der der Titel des Albums spricht.

MONOMANIE DES AFFEKTS

Das ist zunächst faszinierend und besticht nicht zuletzt durch die sensible Musikalität des Ensembles und vor allem durch Brel selbst, der auch als Solist eindrucksvoll in Erscheinung tritt. In Verbindung mit Brels Vorliebe für das Amorphe, Angedeutete und Flüchtige ermüdet dieses Experiment dann aber doch nach einigen Stücken, deren Affekt, unabhängig vom Material, eigentlich immer der gleiche bleibt. Man denkt unwillkürlich an einen jener französischen Spielfilme, deren Stimmung und Atmosphäre sich nach den ersten fünf Minuten nicht mehr wesentlich verändert, selbst wenn Personen und Sets in jeder Szene wechseln. Wie gesagt: Angesichts des gewählten Themas mag dies konsequent und als psychoakustisches Experiment durchaus interessant sein, das musikalische Ergebnis ist mir aber dann doch insgesamt zu hermetisch und unverbindlich.



Georg Henkel



Trackliste
1Soleil froid05:13
2Nuit et Lune07:41
3Parade02:37
4Élégie05:56
5Quatre chemins02:36
6Un bateau qui s'en va05:24
7Petite valse00:49
8Plume01:12
9Les yeux dans les étoiles05:57
10Echos02:24
11Éternelle jeunesse02:32
12Hommage02:55
13Dans un regard02:23
14Mouette03:40
15Sous l'ecorce4:58
16Berceuse04:43
Besetzung

Daniel Brel (Bandoneon)
Kaori Uemura, Martin Bauer,
Sylvia Abramowicz, Isabelle Saint Yves (Gamben)
Vincent Dumestre (Theorbe und Ltg.)


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