Franz Raml, Orgel und Cembalo / Christina Landshamer (Sopran)
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Die Kompositionen des in Halle tätigen Samuel Scheidt (1587-1654) gehören zu jenen Werken, deren musikhistorische Bedeutung zwar stets betont, die aber nur selten eingespielt werden. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass sich hier, anders als z. B. bei seinem Zeitgenossen Heinrich Schütz, verhältnismäßig wenig repräsentative Vokalmusik findet. Vieles ist auch verloren gegangen, darunter bedeutende Teile der im Druck veröffentlichten Werkzyklen. Aus dem erhaltenen Bestand ragt wie ein Monolith die dreibändige "Tabulatura Nova" hervor, eine sehr umfangreiche Sammlung mit Tastenmusik, die die damals aktuellsten musikalischen Strömungen aus Deutschland, Italien und England und Frankreich bündelt und weiterentwickelt.
Nicht nur kompositions- und spieltechnisch ist diese Sammlung zukunftsweisend; "nova", also neu, ist sie auch deshalb, weil sie erstmals fast ausschließlich originale Tastenmusik enthält (und nur wenige Übertragungen vokaler Werke) und wegen eines neuartigen Notationsverfahrens. "Tabulatur" (lateinisch für "Tafel") meint nämlich eigentlich eine tabellarische Notation mehrstimmiger Musik durch einen komplizierten "Code" von Buchstaben, Ziffern und Zeichen. Scheidt bedient sich dagegen des damals noch ganz modernen italienischen Partiturdrucks mit vier Systemen, eines für jede Stimme (ein System besteht hier aus jeweils fünf Notenlinien), was die Überschaubarkeit der Musik auf dem Papier und letztlich ihre Spielbarkeit sehr erleichtert.
Der erste Band der "Tabulatura nova" umfaßt im wesentlich Variationen über bekannte Choräle (z. B. "Wir gleuben all an einen Gott", "Vater unser im Himmelreich") und weltliche, meist volkstümliche Lieder ("Weh windgen weh", "Ach du feiner Reuter"). Scheidt erprobt an ihnen sämtliche der damals gängigen Kompositionsverfahren: freiere Fantasien, Toccaten und Tänze stehen neben streng gebundenen Stücken wie Kanons, Echos und Fugen, virtuoses Spielwerk findet sich ebenso wie sehr komplexe Strukturen.
Dieses Kaleidoskop einer barocken musikalischen Wissenschaft wird vom Organisten Franz Raml in einer mustergültigen Einspielung dargeboten. Dabei erleichtert die Orientierung, dass zumindest die Choräle von der Sängerin Christina Landshamer kurz intoniert werden. Der wechselweise Einsatz einer ansprechend farbig registrierten Barockorgel und eines eigens nachgebauten, seltenen Cembalos mit ausgesprochen reizvollen und vielfältigen Registerfarben verhindert klangliche Eintönigkeit. Besonders dieses herrliche Instrument macht z. B. aus den Variationen über einen Passamezo (Schreittanz) sowie die "Niederlandisch" und "Frantzösisch Liedgen" auf der zweiten CD regelrechte Kabinettstückchen.
Doch eignet sich Scheidts exemplarische Sammlung kaum für ein "Hören am Stück". Eine integrale Darbietung dieses kunstvollen Labyrinths barocker Satzkunst war auch im 17. Jahrhundert weder üblich noch vom Komponisten beabsichtigt. Durchhören, Weiterzappen und Ausprobieren sind also ausdrücklich erlaubt, das meiste Vergnügen dürfte das Selberspielen bereiten. Allerdings gibt es neben vielen durchaus eingängigen oder interessanten Stücken auch einiges zu hören, dass für moderne Ohren doch etwas karg bzw. gelehrt anmutet.
Hier wird mit Hilfe eines modernen Mediums wie der CD eine musikalische Quelle zum Klingen gebracht, die für den Hörer unter anderem neue Perspektiven auf die bekannten Werke eines Johann Sebastian Bach eröffnet, dessen reifes Oeuvre für Orgel und Cembalo ohne Scheidts Experimente nicht denkbar wäre. Ramls Aufnahme ist etwas für Sammler, die sich für die historische Entwicklung der Musik und darüber hinaus für historische Tasteninstrumente interessieren. Die musikologische, klangtechnische, editorische und interpretatorische Qualität dieser Produktion kommt hoffentlich einer breiteren Rezeption zugute.
13 von 20 Punkte
Georg Henkel