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Musik an sich
 
"Renovierter" SCHUBERT: LIEDER in Orchesterfassungen
(Deutsche Grammophon - live DDD (AD 2003) / 471 586-2)
Romantik - Orchesterlieder
Cover
 

Anne Sofie von Otter - Thomas Quasthoff
Chamber Orchestra of Europe
Claudio Abbado

Die Deutsche Grammophon legt den Live-Mitschnitt eines Pariser Konzerts aus dem letzten Jahr vor, in dem sich zwei der ganz großen europäischen Gesangsstars der Urform der Sangeskunst, nämlich dem Lied widmeten. Auf dem bunt gemischten Programm standen ausschließlich Schubert-Lieder, die jedoch nicht in ihrer Urfassung, also klavierbegleitet, sondern in Orchesterfassungen fremder Hand erklangen.

Als müßten derlei Bearbeitungen und diese CD legitimiert werden, haben die Programmmacher ein Orchesterlied aus Schuberts eigener Feder an den Anfang gestellt, nämlich die Romanze aus "Rosamunde". Wer aber weiter hört, erkennt alsbald: Eine Rechtfertigung hat diese Produktion gar nicht nötig, zeigt sie doch eindrucksvoll, wie Schuberts umfangreiches und unübertroffenes Liedschaffen Generationen nachfolgender Komponisten interessiert, inspiriert und zu Bearbeitungen angeregt hat. Darunter so unterschiedliche Charaktere wie Reger und Britten, den jungen Brahms und Jacques Offenbach, Anton Webern, Berlioz und Liszt.

Diese Arrangements, die die intimen, kammermusikalischen Werke in den Konzertsaal hinüberhieven, beziehen ihren Reiz nicht zuletzt daraus, dass sie Rezeptionsgeschichte widerspiegeln und dabei demonstrieren, wie vor allem das ausgehende 19. Jahrhundert sich mit der kleinen Form partout nicht mehr begnügen wollte, sondern stets Größeres erstrebte.
Zweifellos ist eine solche Orchestrierung nicht in allen Fällen eine Veredelung. Insbesondere der höhere Abstraktionsgrad einer bloßen Klavierbegleitung vermag der Gefahr des Abgleitens in banale Liedchen besser zu begegnen, als eine Orchesterbegleitung. Zu gross ist da wegen der Vielfalt der Instrumentationsmöglichkeiten die Verführung zu platter Lautmalerei: So klingt das muntere "An Silvia" nun plötzlich wie ein WDR 4-Hit und die Offenbach-Bearbeitung des berühmten "Ständchens" dürfte die Angebetete eher in Lachen ausbrechen lassen, als ihr Herz zu erweichen.
Andererseits finden sich unter den Arrangements auch unbedingt hörens- und spielenswert Perlen: Regers Fassungen von "Gretchen am Spinnrad" und der "Gruppe aus dem Tartarus" zählen dazu, Liszts Bearbeitung von "Die junge Nonne" und ganz besonders jene Lieder, derer sich Anton Webern 1903 mit viel Effekt annahm.
Und manch ein Werk läßt erkennen, wie weit Schubert seiner Zeit z.T. voraus war: Erst die Orchesterbegleitung gerade der mythologisch fundierten Lieder wie "An Schwager Kronos" unterstreicht, dass die große zukünftige Form des ausufernden Orchesterliedes, welches wir später bei Berlioz oder Mahler finden, bei Schubert schon angelegt war.

Schließlich sorgen die Fähigkeiten der Ausführenden dafür, dass selbst die schwächeren Stücke zum Genuss werden: Anne Sofie von Otter glänzt besonders in den kleinen Dramen. Hat man je einen so fiesen "Erlkönig" gehört, je ein so tief bewegtes "Gretchen am Spinnrade"? Nicht ganz so überzeugend gelingen ihr allerdings die eher zurückhaltenden, lyrischen Stücke. Bei "Nacht und Träumen" etwa fällt unangenehm ein starkes, dauerhaftes Vibrato auf.
Völlig ohne Fehl und Tadel hingegen präsentiert Thomas Quasthoffs seinen Part, der die zweite Hälfte der CD ausmacht. Wer von seiner Kunst nicht berührt und bewegt wird, wer ungerührt bleibt, wenn dieser ideale, volltönende, warme und zugleich über alle Gestaltungsmittel gebietende Bass-Bariton den "Tränenregen" oder das suizidale "Der Wegweiser" darbietet, den wird keine Kunst der Welt jemals bewegen können.
Das Chamber Orchestra of Europe unter dem erfahrenen Claudio Abbado löst seine ungewohnte, wenngleich nicht übermäßig anspruchsvolle Aufgabe als "Liedbegleiter" durchgehend überzeugend. Aufnahmetechnisch ist diese CD so perfekt geraten, dass man den Live-Mitschnitt kaum glauben möchte - da haben die Tontechniker wirklich ganze Arbeit geleistet.

Kurz: Ein interessantes Stück lebendig gewordener Musikgeschichte, eine Demonstration großer Sangeskunst und eine CD so voll "aufgemotzter" Romantik, dass man sich für einen mondhellen Sommerabend nichts besseres denken kann.

17 von 20 Punkte

Sven Kerkhoff

 

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