Vivica Genaux (Rinaldo), Miah Persson (Almirena), Inga Kalna (Armida), Lawrence Zazzo (Goffredo), Eustazio (Christophe Dumeaux), James Rutherford (Argante), Dominique Visse (Mago Christiano)
Freiburger Barockorchester
René Jacobs
www.harmoniamundi.com
Der erste Auftritt Armidas, der bösen Zauberin und Königen von Damaskus, gerät zu einem instrumentalen und vokalen Furioso sondergleichen - im wahrsten Sinne des Wortes: "Furie terribili, cirondatemi, seguitatemi, con facio orribili." Gräßliche Furien, begleitet mich, folgt mir mit grausigen Fackeln!
Inga Kalna bietet hier, sekundiert von effektvollem Donnergrollen und dem rasenden Violinspiel des famosen Freiburger Barockorchesters einen vulkanischen Temperamentsausbruch sondergleichen, der, sollte er schon 1711 von der Sängerin der Uraufführung mit ähnlicher Verve inszeniert worden sein, das Londoner Publikum ebenso entzückt erschauernd in die Sitze gepresst haben dürfte wie heuer den Hörer vor den Boxen seiner Stereoanlage. Mit dieser ariosen Entladung, angesiedelt zwischen Amazonenpose und Wahnsinn, hört man in der Tat eine legitime Königinmutter der Nacht, deren letzte Nachfahrin in Mozarts "Zaubeflöte" stilvoll in den Orkus geschickt wird. Böse Mädchen haben eben in der aufgeklärt-despotischen Saubermannwelt eines Herrn Sarastro nichts mehr zu suchen.
Was ein Glück also, dass wir hier noch mitten im Barock sind - und am Anfang von Händels Opernkarriere in London. Mit Armida, die die Männer wegen ihrer Macht und Stärke zugleich ängstigt und fasziniert, kündigen sich die späteren großen Frauenporträts aus Händels reifem Opfernschaffen an, z. B. Alcina, ebenfalls zauberische Femme fatale und Titelheldin von Händels gleichnamigen Oper aus dem Jahr 1735. Doch was dort zu einer Charakterstudie von großer Differenziertheit gerät, erklingt hier noch im ungeläuterten Rohzustand. Aber mit welch jugendlichem Feuer (Händel war 26)! Und mit was für einem überwältigenden Effekt!
BAROCKER BÜHNENZAUBER
Dramaturgie und Musik von Händels Operneinstand in London sind vor allem auf solche Effekte hin angelegt. Das bislang in puncto italienischer Opera Seria (= seriöse, ernste Oper) nicht sonderlich verwöhnte Publikum reagierte begeistert. Händel und sein Impressario Aaron Hill wollten den Erfolg um (fast) jeden Preis. Ob Händel damals schon daran dachte, sich in London als selbständiger Opernunternehmer niederzulassen? Sicherlich testete er mit seinem "Rinaldo" auch die Marktgängigkeit der musikalischen Importware aus Italien.
Das krude Libretto, das geschickt, wenn auch ohne große Logik, Kreuzzugsmotive mit Intrigen, Liebesaffären und magischem Brimborium zu einem barocken Reißer mixte, bot Händel Gelegenheit zu zahlreichen musikalischen Höhepunkten, die für den nötigen Zusammenhalt der ganzen Produktion sorgten. Ungezwungen bediente sich der Komponist bei jenen Kompositionen, die er während seines Italienaufenthaltes geschaffen hatte. Dass das englische Publikum Hits wie "Cara Sposa" oder "Lascia ch'io pianga" schon auf Umwegen kennengelernt haben könnte, war vor dem Zeitalter der Tonkonserve so gut wie ausgeschlossen. Und so brauchte Händel gerade mal zwei Wochen, um das Textbuch von Giacomo Rossi zu vertonen. Kaum konnte er jemals wieder ein so reiches Instrumentarium für diesen Zweck einsetzten, darunter allein vier Trompeten für die Kriegsmusiken. Und dass sich das hervorragende Orchester des Hayemarket-Theatre aus internationalen Profis zusammensetze, dürfte ihn zusätzlich inspiriert haben.
Doch eine ohrentaugliche, hitverdächtige Musik war nur die eine Seite eines solchen Unternehmens: Aaron Hill hatte eigens kostspielige italienische Starsänger verpflichtet, darunter der Soprankastrat Nicolini, der das Publikum als brillanter Virtuose und Schauspieler gleichermaßen überzeugte ("Auch ein tauber Mensch kann ihm mühelos folgen" jubelte "The Spectator" schon 1708). Und an Bühnenmaschinerie wurde alles aufgeboten, was möglich war: verschwenderische Kostüme und Dekorationen, Verwandlung der Szene bei offenem Vorhang, Donner und Blitz, farbige Illumination und Feuerwerk. Künstliche feuerspeiende Drachen sollten für die notwendige Suspense beim Kampf um das Schloss der Zauberin sorgen. Als sei das alles nicht genug, ließ man bei einer "Vogelstimmen-Arie" lebendige Spatzen auf das verdutzte Publikum los.
Der ganze Aufwand rief denn auch sogleich die Spötter auf den Plan: "Wie hätten die Gelehrten aus der Zeit von König Karls des Großen gelacht, hätten sie Nicolini in seinem Hermelinmantel einem Unwetter ausgesetzt gesehen, und wie er in einem offenen Boot über einen See aus Pappmaché fuhr." Immerhin beeindruckte der kleine Junge, der die Drachen bediente: "Ich sah wirklich nur zweierlei an seinem Auftritt, was nicht vollendet war: er müßte seinen Kopf ein bißchen tiefer halten und seine Kerze verbergen." Wer denkt da nicht sogleich an James Bond mit seinem auch nach Bombenexplosien stets korrekt frisiertem Haar und an das Mikrofon, das auf der Leinwand von oben ins Bild ragt ...
"RINALDO" ALS OPERN-HÖRSPIEL
René Jacobs, Altphilologe, Sänger und Operndirigent weiß, was er einem solchen Werk schuldet, wenn er es für die CD einspielt, wo der optische Eindruck - der in der entsprechenden Innsbrucker Inszenierung vom vergangenen Jahr offenbar großes Vergnügen bereitete - leider fehlt. Unter seinen unkonventionellen, musikantischen und phantasievollen Einspielungen von Opern des 17. und 18. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Ausgrabungen vergessener Komponisten. Händels Opern müssen zwar nicht mehr entdeckt werden, einer guten Einspielung harren aber dennoch die meisten. Dabei hatte Christopher Hogwood den "Rinaldo" vor vier Jahren mit seiner "Academy of Ancient Music" und einer glanzvollen Sänger/innenbesetzung aufgenommen (L'Oiseau-Lyre / Decca 1999). Zu dieser von britischem Understatement getragenen Einspielung bietet der Belgier Jacobs nicht nur eine eindrucksvolle Alternative, sondern überbietet an Einfallsreichtum sogar noch die von ihm selbst gesetzten Maßstäbe.
Im Fall des "Rinaldo" gilt dies vor allem für die pralle akustische Theatralik: Dank der - ganz im barocken Geist - generösen und inspirierten Auszierung des Notentextes (sei es in den Da-Capo-Abschnitten der Arien oder im reich besetzen Continuo) oder auch der vielfältigen klanglichen Spezialeffekte (Vogezwitschern, Donnergrollen, Windmaschine, Gongschläge und Orgelcluster) wird aus dem "Rinaldo" fast schon ein Opern-Hörspiel. Damit geht Jacobs weit über Hogwood hinaus, der einigen Szenen immerhin die wirklich beeindruckenden Klangeffekte einer originalen barocken Theatermaschine unterlegte. Von den zahlreichen Coups des neuen "Rinaldo" seinen nur einige genannt: So die sinnlich-entrückte Harfenbegleitung des berühmten "Lascia ch'io pianga" (CD 2 / Track 14) oder auch die völlig überdrehten Cembalokadenzen in Armidas "Vo'far guerra" (CD 2 / Track 24). Hier implodiert die Affekt-Attacke der Sängerin gewissermaßen unter der zu Schau gestellten Virtuosität der beiden Cembalisten Piers
Maxim und Nicolau de Figureiredo. Das so häufig unterschlagene Sportiv-Zirzensische barocker Opernkunst kommt selten zu solch grandioser und zugleich (für moderne Theatererwartungen) befremdlicher Wirkung wie hier. Kastagnetten verleihen dem Duett zweier Sirenen verführerische Exotik; in Rinaldos "Il Tricerbero umiliato" (CD 2 / Track 10) hört man den Höllenhund in den tiefen Streichern bellen. Und im 3. Akt zieht das Heer der Sarazenen gleich mit einer ganzen Janitscharen-Kapelle vorbei (CD 3 / Track 8). Das ist barocke Ohrenlust, vom Freiburger Barockorchester unter Jacobs mit jener Saftigkeit dargeboten, die auch seine übrigen Einspielungen auszeichnet. Aufs Ganze gesehen, werden da in puncto Expressivität die Anklangsnerven aber auch schon mal etwas überreizt (zumal die präsente Akustik des Aufnahmeortes zu einer gewissen Härte tendiert) - anders Hogwood, der hier mit wesentlich leichterer Hand, aber auch stromlinienförmiger musizieren läßt.
Doch all dies wäre nichts ohne die entsprechenden Sänger! Inga Kalna hält, was sie mit ihrem ersten Auftritt verspricht: dramatisches Feuer, Sensibilität und wirbelnde Virtuosität, von der man gerne mehr hören würde. Ihr Verbündeter und Teilzeit-Geliebter Argante bietet mit James Rutherford einen anfangs polternden, für galante Vokal-Flirts aber auch ausreichend flexiblen Bass. Miah Persson brilliert als Almirena. Ihre Konkurrenz auf der Hogwood-Aufnahme ist Cecilia Bartoli. Bartoli bietet suggestive Stimmakkrobatik, manchmal an der technischen Grenze und manchmal auch jenseits davon. Persson hat die vollere, leuchtendere und rundere Stimme, ohne Bartolis darstellerische Manieren, aber dafür auch nicht so charakteristisch. Ihr "Lascia ch'io pianga", das bei Hogwood/Bartoli ganz ohne Verzierungen geboten wird, gerät zu einer der intensivsten Interpretationen dieser Arie. Als edle christliche Ritter überzeugen die Countertenöre Lawrence Zazzo und Christophe Dumaux: erstaunlich
klangschön, mit kraftvoller Höhe und Tiefe, dabei mitunter von verblüffend androgynem Timbre (CD 2 / Track 4 und 11). Im gleichen Stimmfach legt der gnomenhafte Dominique Visse als christlicher Magier noch einen skurrilen Cameo-Auftritt hin (CD 3, Track 1-3).
Bleibt noch die Hauptrolle: Mit dem Amerikaner David Daniels hatte Hogwood für die schwierige Partie des Rinaldo einen Sopranisten gewonnen, dessen lyrisch-verhangenes Timbre vor allem die empfindsamen und melancholischen Seiten der Figur zur Geltung brachte. Insbesondere das berühmte "Cara sposa" profitierte davon. Auf der neuen Aufnahme übernimmt eine Mezzosopranistin diesen Part - eine durchaus barocke Lösung, griff man doch zu jener Zeit als Ersatz für einen Kastraten lieber auf einen weiblichen Mezzo oder Contralto zurück, als auf einen Countertenor, der die hohe Lage mit Hilfe seines Falsettregisters imitiert. Wegen der außergewöhnlichen Virtuosität und des großen Tonumfang der meisten Kastratenpartien ist die Mezzo-Lösung sicherlich die adäquatere.
René Jacobs entschied sich hier wie schon auf seiner Aufnahme mit Arien des barocken Megastar-Kastraten Farinelli (Harmonia Mundi France 2002) für Vivica Genaux. Und wiederum hinterläßt sie bei mir einen eher zwiespältigen Eindruck. Was die Geläufigkeit und den Umfang ihrer Stimme angeht, bringt Genaux alle Voraussetzungen für ihren anspruchsvollen Part mit. Auch der Mangel an Ausdruckskraft, durch den die Farinelli-CD für meinen Geschmack etwas blass geraten war, ist hier eigentlich nicht mehr das Problem, im Gegenteil: Die Sängerin agiert sehr nuanciert und dynamisch. Was mich stört, ist die Farbe von Genaux' Stimme. Das kehlige Timbre, das bei den Farinelli-Aufnahmen nur gelegentlich auffiel, mag hier vielleicht dem Bemühen um eine "männliche" Wirkung geschuldet sein. Es sorgt für eine satte Tiefe, aber die Höhe bleibt eigentümlich matt. Am störendsten macht sich diese Eigenart jedoch in der Mittellage bemerkbar; der quäkige Einschlag bei den Vokalen, der in den schnellen Läufen
manchmal etwas Keifendes bekommt, sorgt dafür, dass der Affekt der Arie "Cara Sposa" (CD 1 / Track 18), die bei Daniels zwischen beschwörender Sehnsucht und tiefer Traurigkeit changiert, bei Genaux geradezu karikiert wird. Am ehesten überzeugt bei ihr noch der aggressivere Mittelteil des Stücks. Doch trotz der köstlichen Verzierungen des Dacapos will der Funke einfach nicht überspringen.
Bei Stücken mit erregtem, kämpferischen Affekt wie "Venti, turbini" (CD 2 / Track 5) oder "Or la tromba" (CD 3 / Track 14) fällt dieser Faktor nicht so ins Gewicht, wenngleich statt des heroischen ein eher hysterischer Unterton dominiert. Doch vielleicht gerät gerade deshalb der vokale Zweikampf zwischen Armida und Rinaldo so überwältigend: mit wilder, hitziger Attacke und differenziertem Ausdruck selbst bei dem von Jacobs angeschlagenem irrwitzigen Tempo (CD 2 / Track 18). Im Grunde seines Herzen begehrt Rinaldo Armida - und sie ihn. Die vordergründige Abwehr kaschiert nur mühsam kochende Leidenschaft. Dennoch: Überzogenen Etikettierungen wie "Neue Göttin der Alten Musik" sind bei Genaux nicht angebracht.
Fazit: Eine faszinierende, bis ins letzte Detail ausgeklügelte Aufnahme einer Händel-Oper, ein unterhaltsames, mitreißendes und bewegendes musikalisches Spektakel, ein überzeugendes Plädoyer für die Barockoper, dabei sängerisch bis auf die Hauptrolle sehr gut besetzt. Da fällt eine angemessene Punkte-Wertung noch schwerer, als sie ohnehin schon ist.
18 von 20 Punkte
Georg Henkel