Wir wissen nicht genau, was Fürst Nikolaus Borissowitsch Galitzin 1822 erwartet haben mochte, als er Beethoven für zwei oder drei neukomponierte Streichquartette eine hohes Honorar anbot. Selbst ein guter Cellist, rechnete er wahrscheinlich mit niveauvoller Hausmusik von gehobenem Anspruch. Beethoven jedoch nutzte den Auftrag für musikalische Experimente, deren Ergebnisse nicht mehr von Liebhabern, sondern nur noch von professionellen Musikern überzeugend aufgeführt werden konnten.
Die eher abstrakte Besetzung mit vier solistischen Streichern wird vom Komponisten wie ein miniaturisiertes Sinfonieorchester eingesetzt. Es scheint, als habe Beethoven die Gattungsgrenzen sprengen wollen: So dicht, so verwirrend vielgestaltig kommt das musikalische Material daher und werden die gebräuchlichen Formen barocker und klassischer Kompositionen ineinandergeschachtelt. Wie im Schmelztiegel eines Alchimisten hat Beethoven die klingenden Elemente erst geläutert und dann bis zur Fusion erhitzt. Doch das neue Material bleibt hochreaktiv: Schärfste Dynamik- und Tempokontraste halten es unter steter Spannung, Motiv-Moleküle aus Volksweisen und Choralmelodien gerinnen zur bizarren Klang-Kristallen oder auch zerklüfteten Schlackebrocken.
Das 1988 gegründete Leipziger Streichquartett, vertraut mit der klassischen wie der neuesten Musik, hat bereits in früheren Einspielungen seine Affinität zu dieser Musik unter Beweis gestellt und erweist sich auch bei der jüngsten Realisation dieser hochdiffizilen Musik als ein ideales Laboratorium für Beethovens kühne Experimente. Die Modernismen werden ebenso wie die ‚konventionellen' oder archaischen Momente durch eine ungemein reiche Palette an Klangfarben, Phrasierungs- und Artikulationsweisen durchhör- und erlebbar gemacht. Jedes Detail wird herausgearbeitet, ohne daß das Ganze aus dem Blick verloren würde. Böse Stimmen behaupten, es sei das Problem beim Streichquartett, daß es auch wie ein Streichquartett klinge. Beethovens Musik gestattet den Ausführenden allerdings keinen gemütlichen, vibrato-gesättigten Salonmusik-Ton. An der vorliegenden Aufnahme besticht nicht nur die bei alle Dramatik und Wandlungsfähigkeit runde Tongebung der Musiker, sondern auch die natürliche, dabei
plastische und volle Klangtechnik - man hört das Quartett und imaginiert das Orchester.
Repertoire: 4 Punkte
Klang: 5 Punkte
Interpretation: 5 Punkte
Edition: 5 Punkte
Gesamt: 19 Punkte
Georg Henkel