Radigue, É. (Robinson, C. – Gauguet, B. – Guédon, Y.)
Occam Ocean Vol.4
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Info |
Musikrichtung:
Neue Musik
VÖ: 04.03.2022
(Shiiin / Outhere / CD / DDD / 2021 / Best. Nr. eer4)
Gesamtspielzeit: 68:00
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MIT WEITEM ATEM
Zum 90. Geburtstag der französischen Komponistin Éliane Radigue erscheint eine weitere Folge ihrer „Occam Ocean“-Reihe mit drei Werken, die ganz auf der Linie jener kontemplativen und mikroskopisch-kontinuierlichen Klangtransformationen liegen, für die Radigue seit den 1970er Jahren berühmt ist. Seinerzeit verwendete sie noch ein ARP 2500 Modularsystem. Mit diesem analogen Synthesizer erforschte sie die Slow-Motion-Entwicklung von Phänomen an der Schwelle von Ton und Geräusch, Ereignis und Stillstand – ein faszinierender Zusammenfall von Gegensätzen. Das Ergebnis ist eine punktuelle, sich in Gestalt von langsam verändernden Drones entfaltende Musik von hoher Abstraktion und zugleich konzentrierter Sinnlichkeit. Es sind Werke, die deutlich von Radigues Hinwendung zum tibetischen Buddhismus und ihrer meditativen Praxis geprägt sind.
Seit Anfang der 2000er Jahre arbeitet Radigue mit Interpret:innen zusammen, mit denen sie ihre Klangvorstellungen auf akustische Instrumente überträgt. Der Synthesizer sei stets ein Notbehelf gewesen, wie sie sagt, in Ermangelung von menschlichen Ausführenden. Es schien ist kaum vorstellbar, dass ihre spezielle Musik deren Interesse wecken könnte. Das Gegenteil ist offenbar der Fall. Im siebten und achten Lebensjahrzehnt, wenn andere sich meist zur Ruhe setzen, schuf Radigues ihr zweites Hauptwerk. Es entstanden Serien wie das dreiteilige „Naldjorlak“ und der nahezu unübersehbare „Occam“-Kosmos, der mittlerweile über 80 Kompositionen umfasst. Die Titel sind Phantasiebezeichnungen. Gleichwohl vermitteln sie etwas von der geheimnisvollen Magie dieser eigentümlichen Stücke, die den Hörer in ein Zwischenreich jenseits der normalen Raum-Zeit-Wahrnehmung versetzten können.
Die Occam-Stücke werden durch Zusätze wie „Delta“, „River“, „Hepta“ oder „Ocean“ und römische Bezifferungen genauer charakterisiert. Es handelt sich um Solo- oder kammermusikalische Besetzungen; mit „Occam Ocean“ realisierte Radigue allerdings auch eine größere orchestrale Formation.
Die neue CD-Folge legt den Schwerpunkt auf Werke, die 2018 und 2019 entstanden sowie Besetzungen, bei denen der menschliche Atem das Maß ist: Occam Delta XIX verwendet Singstimme, Soprangambe, Birbyne (ein aus der traditionellen litauischen Musik stammendes Rohrblattinstrument) und Altsaxophon. Occam XII entspringt allein einer solistischen Bariton-Stimme, während Occam River XXII für ein Duo für Altsaxophon und Bassklarinette geschrieben wurde. Die kleinen Besetzungen verraten jedoch wenig vom klanglichen Reichtum, der hier zu Gehör gebracht wird.
Die Stücke entstanden in engem Austausch zwischen Interpretin:nen und Komponistin. Mit der langjährigen Radigue-Interpretin und Klarinettistin Carol Robinson (die bei Occam River XII zudem als Ko-Komponistin fungiert) sowie dem Saxophonisten Bertrand Gauguet und dem Bariton Yannick Guédon (der im ersten Stück auch die Gambe spielt) stehen Radigue Musiker:innen zur Verfügung, die die Intentionen der Komponistin bewundernswert verwirklichen.
Durch die extrem subtile und verlangsamte Tonerzeugung werden die instrumentalen Klänge abstrahiert. Zwar dominiert der tonliche über den geräuschhaften Aspekt (es klingt immer „schön“), aber wenn man es nicht besser wüsste, könnte man immer wieder vermuten, dass diese Klänge elektronisch erzeugt werden. Wären da nicht feinste Fluktuationen, Körnungen oder auch Irregularitäten, die für einen sehr differenzierten und überraschend reichen Klangeindruck sorgen, der auf elektronischem Weg so einfach nicht zu erreichen wäre. In einem solch extrem reduziert-verdichteten Musikgeschehen werden freilich schon kleinste Veränderungen zum Ereignis.
Die natürlichen Atemdauern geben den „Rhythmus“ vor. Der weite Atem der Ausführenden erzeugt eine sehr langsame Pulsation von Toneinsatz und -ausklang. Durch Überlagerungen wie in Occam Delta XIX entstehen wie von selbst ständig neue Texturen und Impressionen, die manchmal an Doppler-Effekte erinnern. In Occam XXII ist es die Stimme von Yannick Guédon, die vom „weißen Rauschen“ des anfänglichen Atems in einen zunächst zart modulierten, gegen Ende durchdringenden Obertongesang hinübergleitet; hier gibt es auch längere reine Stillen – immer dann, wenn der Sänger lautlos neue Luft schöpft. Beim dunkel glosenden Occam River XXII steht wie in Occam Delta XIX wieder der Eindruck eines durchgehenden Klangband aus zwei sich überlagernden Registern im Vordergrund.
Die spürbare Hochkonzentration der Ausführenden, die sich mit Hingabe in den Prozess der Klanggenese versenken, überträgt sich auf die Zuhörenden. Man wird ganz Ohr, ganz Jetzt, tritt ein in den pardoxen zeitlosen Klangstillemoment, der bei aufmerksamem Hören nie eintönig oder langweilig ist, sondern eine nachgerade beschwörende Kraft und unheimliche Tiefe hat. Radigues Resonanzräume sind, wenn man so will, Echos auf die Ritualmusik Tibets und zugleich Kinder der europäischen Avantgarde.
Die Aufnahmen entstanden in erlesener Klangtechnik im Kubus des ZKM in Karlsruhe und werden mit einer ausführlichen zweisprachigen Dokumentation und lesenswerten Kommentaren der Ausführenden veröffentlicht.
Georg Henkel
Trackliste |
1 | Occam Delta XIX |
2 | Occam XXII |
3 | Occam River XXII |
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Besetzung |
Carolin Robinson, Bassklarinette und Birbyn?
Bertrand Gauguet, Altsaxophon
Yannick Guédon, Bariton und Diskant-Gambe
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