Familienfreundliche Gesamtkunstwerke: Mister Misery mit Ensireal im Leipziger Bandhaus
Wen Mister Misery auf ihrer Spätwintertour 2020 als Support dabeihaben, ist nirgendwo angekündigt – der im Bandhaus strategisch günstig direkt gegenüber der Bar und am Hauptzugang gelegene Merchstand gibt Auskunft: eine Combo namens Ensireal, von der zumindest der Rezensent noch nie was gehört hat. Nach einem ellenlangen Intro, in dem zu angedüsterter Musik eine weibliche Stimme das Konzept des Albums The History Of The Golden Henchman erklärt und das immer noch keine Rückschlüsse auf die Art der Geräuscherzeugung der Band zuläßt, fangen die drei Musiker an zu spielen – und die Lage wird nur bedingt klarer. Wir bekommen eine eigentümliche Mixtur aus Heavy und Death Metal zu hören, temposeitig oft in verschiedenen Midtempolagen, aber dort durchaus vielseitig, wobei der Drummer in den ersten Songs bisweilen einen fast punkigen Eindruck hinterläßt, was sich aber Schritt für Schritt wandelt. Der Gitarrist wiederum muß zwischen kernigem Riffing und Soloparts wechseln und macht das durchaus gut, wenngleich man das Gefühl nicht loswird, ein zweiter Gitarrist könnte dem Liveeindruck noch förderlicher sein. In „Matron’s Heart“ und „Devil’s Twist“ tappt er sich hoch und runter übers Griffbrett, und das relativ ausladende „Hunt Down The Wilderness“ überrascht zudem mit einem Akustikbreak, während im Gegenzug „Golden Cage“ die kompakteste Nummer darstellt. Den Gesang teilen sich der Bassist und der Drummer, und abermals fällt auf, dass letzterer in den ersten Songs mehr Anteile besitzt. Er singt mit einer völlig unprätentiösen soliden Klarstimme, während der Bassist ein relativ hell gefärbtes Grunzen beisteuert und im Direktvergleich souveräner wirkt. Das soll nicht heißen, der Drummer singe schlecht – aber er paßt irgendwie viel zu gut ins Gesamtbild der netten Jungs von nebenan, die mal zufällig eine Band gegründet haben und hier auf einer Party von Freunden spielen, und da reihen sich auch die freundlichen Ansagen ein. Ensireal sind irgendwie schrecklich normal, und es bleibt jedem überlassen, ob er das als Vor- oder Nachteil empfindet. Von den neun Songs des Albums werden sechs gespielt, das Ganze bei gut ausbalanciertem Soundgewand in angenehmer Lautstärke, zumal die reduzierte Instrumentierung und der Komplettverzicht auf Samples oder sonstige Beigaben (vom Intro abgesehen) die Transparenz begünstigt. Das einheimische Trio erhält einiges an Applaus, obwohl es vom zu erwartenden Geschmack der Mister-Misery-Anhängerschaft doch ein wenig entfernt lagert – man denkt hier und da mal an Asphyx, auch mal an Furbowl, an Moaning Wind oder gar an Mortification, freilich alles in familienfreundlicher Fassung. Apropos familienfreundlich: Als Umbaupausenmusik liegt ein Album von The Skatelites drin, also ein totaler Kontrast zur Musik beider Bands, aber eine gute Wahl für alle, denen Stilschubladen herzlich egal sind und die zwischen zwei angedüsterten Metalbands nicht auch noch angedüsterte Pausenmusik brauchen. Schrägerweise hat der Rezensent Mitglieder der Skatelites nicht einmal ein Vierteljahr zuvor in Jena mit dem New York Ska-Jazz Ensemble erlebt. Die Welt ist doch klein ... Setlist Ensireal: Sins Of Yesterday Flesh & Stones Matron’s Heart Hunt Down The Wilderness Golden Cage Devil’s Twist Mister Misery sind so etwas wie ein Gesamtkunstwerk, das aber trotzdem zugänglich und offen bleibt – ansonsten würden sie auch wohl kaum im Bandhauskeller spielen, wo die niedrige Bühne ohne Absperrung quasi direkten Fankontakt ermöglicht und die Band, um vom Backstagebereich auf die Bühne zu gelangen, einmal längs durch den Publikumsbereich muß. Gemäß einer Ansage freut sich die Band, dass sie zurück in Leipzig sei – sie muß also schon mal hier gespielt haben, wobei sie erst im Februar 2018 gegründet wurde, also nicht so sehr viel Zeit für derartige Aktivitäten bleibt, zumal das Debütalbum Unalive auch erst im Herbst 2019 veröffentlicht worden ist. Aber es scheint sich schon ein Kern von Die-Hard-Anhängern herausgebildet zu haben: Normalerweise verschwindet bei Gigs im Bandhaus nahezu das komplette Publikum aus dem Keller, um entweder an der Bar oder am Merchstand Geld zu lassen, draußen zu rauchen oder frische Luft zu schnappen, und das Wetter an diesem Abend bildet für letztere Aktivitäten auch keinen Hinderungsgrund. Trotzdem aber bleiben die ersten drei Reihen vor der Bühne, übrigens zu einem nicht geringen Anteil weiblich besetzt, die ganze Umbaupause über an Ort und Stelle. Mister Misery werden mit dem Terminus Gothic Glam angekündigt, was Wahrheit enthält und doch auch wieder nicht. Kann sich jemand vorstellen, wie ein Mix aus HIM und W.A.S.P. klänge? Das liegt von der Realität vielleicht gar nicht so weit entfernt, und doch muß man das noch weiter ausführen. Das Quartett kommt komplett mit Corpsepaint auf die Bühne, allerdings auch hier in einer familienfreundlichen Version, die freilich im Sinne des Gesamtkunstwerkes so weit ausgedehnt wird, dass sogar der Merchandiser so aussieht. Die Setlist enthält explizite Wünsche an die Lichtgestaltung für jeden Song, wobei letztere in die drei Kategorien „Fast Tempo“, „Mid Tempo“ und „Low Tempo“ untergliedert sind, was sich freilich etwas relativiert, wenn man die Songs schon von der Konservenversion her kennt, und auch dem Nichtkenner fällt schnell auf, dass die Tendenzen zwar stimmen, aber die meisten Songs temposeitig doch relativ vielschichtig gehalten sind und der einzige als „Fast Tempo“ gekennzeichnete, „Legion“, zwar tatsächlich mit flotten Stakkati die schnellsten Passagen des Gigs enthält, aber zwischendurch durchaus auch runterschaltet. Leider muß man sich insgesamt ziemlich anstrengen, um viele Feinheiten wahrnehmen zu können – zum einen sind die Drums etwas zu laut unterwegs, zum anderen laufen fast durchgehend Samples mit und überdecken vor allem die Rhythmusgitarren oftmals, was sich erst in der zweiten Sethälfte etwas bessert, während hingegen die Leadgitarren schon seit Anbeginn klar durchhörbar sind und man feststellt, dass die Schweden trotz aller angedüsterter Optik im Herzen doch irgendwo metallische Traditionalisten sind. Und wenn dann das Riffing mal hervortritt, dann wird durchaus auch gleich ein feister Mini-Hit draus, wie an diesem Abend „My Ghost“ beweist, das freilich nicht zufällig auch eine der beiden Singles von Unalive darstellt. Mit der anderen, nämlich „The Blood Waltz“, haben Mister Misery ihren Set eröffnet, und schon hier wird ihr gutes Händchen fürs Schreiben eingängiger chorischer Refrains deutlich – sie sind außerdem auch in der Lage, das angemessen auf die Bühne zu bringen, denn alle Bandmitglieder, auch der Drummer, singen mit, der Leadsänger dabei mit einer etwas angerauhten, aber dennoch melodisch treffsicheren Stimme, die anderen drei meist etwas cleaner. Der Drummer fällt außerdem dadurch auf, dass er in einigen Songs gewisse Passagen im Stehen spielt, und schließlich unternimmt er sogar den Versuch, sich in einem Intro auf seinen Drumhocker zu stellen, womit er dann mit dem Kopf fast an die Kellerdecke stößt. Alle Bandmitglieder präsentieren sich spielfreudig, das Publikum ist trotz übersichtlicher Kopfzahl ebenfalls auf gute Laune geeicht, und so singt man nicht nur das eine oder andere Mitsingspielchen, sondern auch diverse Refrains bereits lauthals mit – offensichtlich ist das Material vom Debütalbum bereits positiv bekannt. Dass selbiges den Set dominieren würde, konnte man sich ja vorher ausrechnen – aber als letzter Song des Hauptsets kommt „Hollow“, eine der ersten Nummern der Band, die jedoch nicht den Weg aufs Album gefunden hat. Live überzeugt sie jedoch in ähnlichem Maße wie viele der anderen Songs, soweit man das eben wahrnehmen kann – manchmal ist weniger, also hier weniger Samples, eben doch mehr, also hier mehr Genuß. Zwei Zugaben kommen noch, dann ist der Gig zu Ende – Ensireal haben nahezu pünktlich nur wenige Minuten nach 20 Uhr zu spielen begonnen, Mister Misery nahezu pünktlich 21 Uhr, und jetzt ist es noch nicht mal 22 Uhr: Als Headliner (mit nur einer Vorband) gerade mal 50 Minuten zu spielen ist irgendwie arg wenig, wenngleich sich alternde Besucher wie der Rezensent natürlich freuen, wenn sie etwas eher ins Bett kommen. Aber in diesem Falle wäre nun wiederum mehr auch mehr gewesen – was auch immer man da gespielt hätte, wenn das Debütalbum nun mal nicht länger ist. Als Stockholmer Band hätte man da freilich genügend Stoff aus der eigenen Stadt covern können, sozusagen als Kulturbotschafter, und selbst wenn man das nicht gewollt hätte, hätte es sicher noch andere Möglichkeiten gegeben, wie man der Qualität noch mehr Quantität hinzufügt. Sowas hinterläßt einen unnötigen Wermutstropfen in einem sonst eigentlich recht positiven Eindruck, und Mister Misery müssen aufpassen, dass ihnen solch Tropfen nicht stärker anhängt. Und noch was: Am Merchstand hängt ein Pullover mit Golddruck in limitierter Edition, für 100 Euro – und das von einer jungen Band, die gerade mal ihr Debüt draußen hat, also bis zum Status der Stones oder Pink Floyds, von denen man so etwas eher erwarten würde, noch ein paar Stufen klettern muß. Irgendwie paßt das ganz und gar nicht zum eigentlich recht bodenständigen Bühneneindruck ... Setlist Mister Misery: The Blood Waltz You And I Legion Dead Valentine Alive My Ghost Rebels Calling Stronger Hollow -- Tell Me How Live While You Can Roland Ludwig |
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