Sakral, tonal und weltzugewandt - Sven Oliver Müller beschreibt den Komponisten, Dirigenten und Menschen Leonard Bernstein
Dass ich nicht in erster Linie Klassik-Experte bin, wisst Ihr. Also fielen bei mir vor der Lektüre dieser Biographie erst einmal die oberflächlichsten Klappen – die West Side Story natürlich – und Bernstein als Dirigent von Klassikern (im doppelten Sinne) wie Beethovens Neunter. Von dem luxuriösen Lebemann mit immensem Zigaretten-Konsum wusste ich ebenso wenig, wie von dem überzeugten New Yorker, dem amerikanischen Juden und dem überaus produktiven Komponisten. Dass er ein weit gereister Dirigent war, der an vielen großen Häusern gearbeitet hat, war mir dagegen bewusst. Sven Oliver Müller arbeitet sich ganz gezielt an diesen vielschichtigen Seiten des Komponisten ab. Daher hat seine Biographie keinen chronologischen Aufbau. Jedes Kapitel befasst sich mit einem Aspekt von Bernsteins Person und seinem Werk. Dabei kommt es fast zwangsläufig zu Wiederholungen, was sich aber nicht zum Nachteil auswirkt, sondern die besonderen Akzente der Persönlichkeit des Künstlers betont. Grundsätzlich wäre bei einem solchen Aufbau eine übersichtliche Zeitleiste am Ende des Buches sinnvoll gewesen. Mir hat sie gelegentlich gefehlt. (Immerhin gibt es ein gut sechsseitiges Register.) Ob sie am Ende aber wirklich hilfreich gewesen wäre, da bin ich mir unsicher, da sich das Leben Bernsteins nicht einfach in Phasen einteilen lässt. Seine Engagements u.a. in Wien, Berlin, Tel Aviv und New York folgen nicht aufeinander, sondern er ist im Laufe vieler Jahre immer wieder für mehr oder weniger lange Zeiträume an den jeweiligen Konzerthäusern aktiv gewesen. Müller betont immer wieder, dass Bernstein sich in seinem Werk fast ausschließlich auf tonale und zugängliche Musik konzentriert und sich im Wesentlichen am Klang der romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts orientierte. Die Aufnahme von Atonalität, die das 20. Jahrhundert geprägt hat, hat er nicht nachvollzogen. Dafür hat er oft die Grenzen zwischen E- und U-Musik überschritten und Elemente letzterer in seine Kompositionen eingebaut. Der kritische Tonfall, den Müller an diesen Stellen anschlägt, lässt einen zumindest latenten Wunsch erkennen, Bernstein wäre hier etwas mehr „E“ gewesen. Auffällig bei der Aufnahme von U-Musik-Elementen ist, dass Bernstein hier bis maximal in die 50er Jahre vorgestoßen ist. Jazz konnte sein Thema sein. Von Rock’n’Roll und folgenden Stilen konnte ich in Müllers Buch nichts finden. Etwas überraschend. Bei seinem Ansatz hätte man sich ein Eingehen – insbesondere auf die progressiven Musiker der 70er – gut vorstellen können. Aber er ist dann wohl doch zumindest so „E“ gewesen, dass er sich auf Musik beschränkte, die man traditionsgemäß im Anzug, oder zumindest im Rollkragenpullover spielt. Endstation High Society sozusagen. Dabei ist sein Output durchaus vielfältig. Auf Seite 116 beschreibt Müller welches Spektrum er in dem Kapitel über den Komponisten Bernstein abschreiten will: „erstens sein sinfonisches Werk, zweitens seine Konzerte bzw. solistischen Stücke, drittens die Musicals, viertens die Opern und fünftens schließlich Kompositionen mit einer transzendenten, sakralen Dimension“. Norbert von Fransecky |
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