Chaconne gegen Walzer: Das Geraer Theater bringt die selten gespielte Oper Die Passagierin von Mieczyslaw Weinberg auf die Bühne
Im Januar 2019 spielte das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera die 6. Sinfonie von Mieczyslaw Weinberg – knapp zwei Monate später steht nun die Oper Die Passagierin des gleichen Komponisten auf dem Plan, eingebettet in die Reihe „Wider das Vergessen“, deren zugehörige Werke verschiedene Aspekte des Nationalsozialismus und des Widerstandes gegen selbigen beleuchten. Das Interessante dabei: Es wird der Versuch unternommen, weitgehend auf Schwarzweißmalerei zu verzichten und stattdessen vielfältige Deutungsaspekte und Herangehensweisen zuzulassen. Ebenjenen Versuch unternimmt auch das Buch „Die Passagierin“ der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz, und es erscheint im nachhinein betrachtet äußerst merkwürdig, dass es im Polen der frühen 1960er überhaupt erscheinen durfte und zudem noch international verbreitet und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, obwohl es mit seinem Versuch, eine Angehörige der Auschwitz-Wachmannschaft als Mensch zu zeichnen (freilich ohne das grundsätzliche humanistische Urteil in Zweifel zu ziehen!), ganz und gar nicht in die realsozialistische Doktrin von Gut und Böse paßte. So aber gelangte das Buch auch in der Sowjetunion zur Veröffentlichung und kam in die Hände von Dmitri Schostakowitsch, der das Potential erkannte, daraus eine Oper zu machen, so dass Alexander Medwedew ein Libretto erstellte. Warum Schostakowitsch die Oper letztlich nicht selbst schrieb, dürfte vielschichtige Ursachen gehabt haben. Zum einen hatte er in den 1960ern zunehmend unter gesundheitlichen Problemen zu leiden, so dass kraftraubende Großprojekte kaum noch möglich waren – zum anderen mußte er allerdings auf dem Opernsektor auch ein Jahrzehnt nach Stalins Tod noch vorsichtig sein, hatte er doch mit der scheinbaren Neufassung seiner 1936 vom Generalissimus geächteten Oper Lady Macbeth von Mzensk, die in den 1960ern als Katerina Ismailowa neu herauskam und nun allseitig als Meisterwerk bejubelt wurde, das genau den Direktiven entsprach, denen es 1936 noch widersprochen hatte, die Parteiöffentlichkeit an der Nase herumgeführt, indem die scheinbare Neufassung kaum Veränderungen zur Erstfassung beinhaltete, und wenn ein findiger Funktionär das gemerkt hätte, so wäre es abermals schlecht um den Komponisten bestellt gewesen. Also war Vorsicht geboten, sich einem prekären Stoff wie „Die Passagierin“ selber zu nähern – stattdessen machte sich Schostakowitschs Freund und Kollege Mieczyslaw Weinberg an die Arbeit, auch der freilich ein gebranntes Kind, was die Umsetzung prekärer Sujets anging. So scheiterte auch er letztlich an der sowjetischen Kulturbürokratie: Schostakowitsch war zwar begeistert von dem Werk, das er mehrfach als Klavierdurchspiel erleben durfte, und versuchte eine Aufführung auf die Beine zu stellen, aber den Verantwortlichen im staatlichen Opernsektor muß klar gewesen sein, dass ein solcherart behandeltes Sujet in der Ära Breshnew keine Chance auf eine wie auch immer geartete „faire“ Resonanz haben würde. So verschwand die 1968 fertiggestellte Oper in den Archiven und entstieg diesen erst im 21. Jahrhundert wieder. Bezeichnenderweise kam 2006 in Moskau aber keine szenische Produktion zustande (das Schwarz-Weiß-Denken in der heutigen russischen Gesellschaft unterscheidet sich in bestimmten Kontexten phasenweise nur in Nuancen von dem in der sowjetischen Zeit), sondern nur eine konzertante Aufführung, und so dauerte es noch bis 2010, Die Passagierin auch szenisch auf die Bühne zu bringen, abermals bezeichnenderweise nicht in Rußland, sondern in Bregenz. Die Kritik feierte die Entdeckung eines hochbedeutenden Werkes, und so landete selbiges nicht gleich wieder in der Vergessenheit, sondern erlebte in der seither vergangenen knappen Dekade eine zwar immer noch an den Fingern beider Hände abzählbare Zahl von Inszenierungen, die aber bisweilen an andere Bühnen übernommen wurden und somit für eine doch recht rasche Verbreitung der Oper sorgten. Die Deutschland-Premiere fand Die Passagierin in Karlsruhe statt, und die dort gespielte siebensprachige Fassung kommt nun auch in Gera für zunächst sechs Vorstellungen auf die Bühne. Die eingangs erwähnte KZ-Aufseherin ist Lisa Franz, die 1960 mit einem deutschen Diplomaten verheiratet ist und mit diesem nach Brasilien fährt, wo Walter neuer Botschafter werden soll. Auf dem Schiff reist allerdings eine geheimnisvolle Passagierin mit, die Lisa an Marta erinnert, eine in Auschwitz inhaftiert gewesene Polin aus ihrem Kommando, die sie eigentlich längst tot wähnte. Lisa beichtet Walter, der von ihrer Auschwitz-Zeit noch nichts weiß, ihre Vergangenheit, woraufhin selbiger in große Angst gerät, seine Diplomatenkarriere könne, wenn das herauskommt, ein für allemal vorbei sein. Besagte Beichte geschieht in Rückblenden auf bestimmte Geschehnisse in Auschwitz, wo Lisa gegen die Anordnungen verstößt, indem sie Marta ein Rendezvous mit ihrem gleichfalls inhaftierten Verlobten Tadeusz ermöglicht, allerdings weniger aus Nächstenliebe, sondern weil sie sich davon Einfluß auf die im Block eine Art natürliche Autorität besitzende Marta erhofft. Letzteres gelingt nicht, und so kommt es letztlich zur Katastrophenanbahnung: Tadeusz, im Hauptberuf Violinist, soll für den Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer spielen, intoniert statt dessen aber eine Bach-Chaconne und wird abgeführt, und auch Marta landet, so lautet Lisas letzte Information, im Todesblock des Konzentrationslagers, so dass sie und auch Walter nach reiflicher Überlegung davon ausgehen, dass die geheimnisvolle Passagierin nicht Marta sein kann. Bei einem Ball auf dem Schiff kommt es allerdings zum Showdown, als sich die Passagierin bei der Kapelle exakt den Lieblingswalzer des Lagerkommandanten wünscht. Der in acht Bilder und einen Epilog untergliederte Zweiakter stellt inszenierungstechnisch eine Herausforderung dar, wie die Rückblendestruktur vom Schiff des Jahres 1960 ins KZ des Jahres 1943 gelöst werden soll – Regisseur Kay Kuntze und Bühnenbildner Martin Fischer haben mit einer doppelten rotierenden Bühne und einer vertikal drei Etagen umfassenden Struktur eine geniale Lösung erschaffen, die alle notwendigen Beziehungen problemlos herzustellen erlaubt. Kostümtechnisch gibt es keine Experimente, sondern mehr oder weniger Realismus der betreffenden Jahre, und auch ansonsten liegt der Fokus angenehmerweise darauf, die Geschichte möglichst stimmig zu erzählen. Die Siebensprachigkeit ergibt sich übrigens daraus, dass die inhaftierten Frauen alle in ihrer jeweiligen Heimatsprache singen, wenn sie nicht gerade miteinander oder mit der Wachmannschaft kommunizieren, welchletztere natürlich Deutsch spricht (wobei interessanterweise die reale Auschwitz-Lagermannschaft aus SS-Einheiten unterschiedlichster Herkunft bestand), und auch Lisa und Walter unterhalten sich auf dem Schiff in Deutsch, während die Schiffssprache ansonsten Englisch ist, was wie auch alle anderen Sprachen in den Übertiteln jeweils übersetzt wird. Über die sängerische Qualität all der Fremdsprachen der Darstellerinnen der inhaftierten Frauen maßt sich der Rezensent kein Urteil an – interessanterweise spielt allerdings mit János Ocsovai offenbar ein Ungar die Rolle des Walter und stattet diese auch mit einem leichten Akzent aus. Sollte das ganz bewußt geschehen sein? Wenn ja, wäre es ein interessanter Fingerzeig in Richtung derjenigen Fragen, die die Oper zwar aufwirft, aber nicht stellt oder nicht beantwortet. Über Walters eigene Vergangenheit während der NS-Zeit etwa erfährt der Hörer nichts, aber in den 1960ern waren sowohl in Argentinien als auch in Chile jeweils bundesdeutsche Botschafter mit tiefbrauner Vita aktiv, und der 1959 bis 1962 in Rio de Janeiro den Botschafterposten bekleidende Herbert Dittmann hatte auch eine solche – so kommt zumindest ein latenter Verdacht auf, dass Walter, der als Karrieretyp gekennzeichnet ist und laut Libretto um 1910 geboren wurde, auch eine entsprechende Vergangenheit haben könnte. Der Logikbruch, dass die KZ-Aufseherin schon 1943 Anna-Lisa Franz heißt, obwohl sie erst 1945 Walter Franz heiratet, bleibt allerdings unerklärlich – so häufig ist der Nachname Franz ja nun nicht, und hätten sie beide schon früher so geheißen, wäre das ein arger Zufall. Dass allerdings die Oper der offiziellen sowjetischen Kulturdoktrin folgt, die Faschisten seien kulturlose Barbaren gewesen, macht das gesamte Konstrukt trotz aller begrüßenswerter menschlicher Differenzierung zumindest schwierig, und auch Alexander Gurdon schafft es in seinem ansonsten sehr tiefsinnigen Beitrag im Programmheft nicht über diese Stufe hinaus: Erstens setzt Weinberg den Lieblingswalzer des KZ-Kommandanten zwar in deutlicher Anlehnung an Schostakowitschs berühmten Jazzsuitenwalzer, aber mit deutlich schrägerer Harmonik – wenn das der Lieblingswalzer des Kommandanten ist, muß der ein recht intensiver Liebhaber der E-Musik des mittleren 20. Jahrhunderts, also ein musikalisch recht progressiver Mensch sein. Zweitens eignet sich ausgerechnet eine Bach-Chaconne nun ganz und gar nicht als Gegenpol, nicht mal zu einem vielleicht banal gemeinten Walzer: In nationalsozialistischen Führungsriegen saßen durchaus nicht wenige Kenner und Liebhaber des nationalen Musikerbes (selbst der „Führer“ schätzte durchaus nicht nur Die lustige Witwe, sondern auch Beethoven-Sinfonien), und der einzige Grund, weswegen sie in einer solchen Situation „aus der Haut fahren“ könnten, wäre, wenn sie mutmaßen, die Wiedergabe deutschen Kulturgutes wie einer Bach-Chaconne durch einen Polen, also einen „Untermenschen“, sei eine Entweihung dieses Kulturgutes – das Libretto liefert für diese Deutung allerdings keinerlei Anhaltspunkte. Weinberg hat die Oper durchkomponiert, von einem russischen Volkslied und einigen „Kommentaren“ des Chores abgesehen gibt es keinerlei eingängige Passagen, obwohl das Geschehen auf tonaler Basis bleibt. Gerade die KZ-Szenen unterlegt er mit geradezu quälend minimalistischer Musik, damit Monotonie wie Bedrohlichkeit des Lageralltags kongenial darstellend, aber dem Hörer damit einiges Durchhaltevermögen zumutend. Die Nähe zum Werk Schostakowitschs ist natürlich auch in dieser Oper deutlich hörbar, aber es fehlen zwei markante Aspekte des letzteren: Weinberg verzichtet sowohl auf musikalische Ironie als auch auf große Apokalyptizität und gewinnt dadurch markant an Eigenständigkeit. Mit dem auch in den Sechzigern noch das große Leitbild darstellenden Sozialistischen Realismus hatte das musikalisch natürlich ebensowenig zu tun wie das Sujet – ein weiterer Grund dafür, dass es die Oper damals nicht auf die Bühne schaffte, und eine Person wie die Aufseherin Lisa zumindest ansatzweise als Mensch zu zeichnen (wenngleich der Funktionär letztlich doch die Oberhand über den Menschen gewinnt) ging in diesem Kontext wie bereits erwähnt natürlich überhaupt nicht, regt aber heutzutage umso mehr zum Nachdenken an, was auch den grundsätzlichen Wert der Oper zu determinieren hilft. So weit, so gut – leider hängt der Oper aber noch ein Epilog an, den Marta solistisch auf der Vorderbühne darzubieten hat. Wirkt dieser schon per se reichlich pflichtschuldig, um den antifaschistischen Charakter nochmals herauszustellen (genützt hat’s, wie wir wissen, nichts), so lassen Kuntze und Fischer eine Opferliste von Auschwitz-Häftlingen auf einem semitransparenten Vorhang durchlaufen und reißen damit all das ein, was sie vorher in drei Stunden Nettospielzeit mühevoll aufgebaut haben: Die Identifikation des Hörers mit dem Schicksal der Inhaftierten geschieht über deren Individuen, die in den im KZ spielenden Szenen ausführlich gezeichnet werden – die Namensliste aber macht aus den Individuen eine große Masse und zerstört die Identifikation mit den Individuen. Unwillkürlich denkt man an Stalins berühmtes Zitat „Der Tod eines Einzelnen ist eine Tragödie. Der Tod einer Million ist Statistik“, und das dürfte nun ganz und gar nicht das Ziel der Inszenierung gewesen sein. Der Schluß ist allerdings sowieso unglücklich choreographiert: Marta ist irgendwann mit Singen fertig, das Orchester irgendwann mit der Partitur durch, die Liste aber läuft weiter und weiter und weiter. Im Programmheft war die Bitte abgedruckt, am Ende nicht zu klatschen – die Liste läuft weiter und weiter und weiter. Irgendwann geht das Saallicht an, und die Türen werden geöffnet – aber es traut sich keiner, aufzustehen und zu gehen, denn die Liste läuft weiter und weiter und weiter. Nein, es dürfte keine Ergriffenheit sein, sondern Gruppenzwang, weswegen viele noch lange sitzenbleiben, und die Ergriffenheit beschränkt sich sichtbar auf einige der Anwesenden, während sich irgendwann einige andere doch trauen, den Saal zu verlassen. Das hätte man deutlich stringenter lösen können, etwa mit einer simplen Ausblendung der Liste spätestens beim Öffnen der Türen. Schade drum – so geht man auf andere Weise berührt aus dem Saal, als das eigentlich geplant war. Trotzdem stellt das Werk natürlich eine definitiv lohnende Entdeckung dar, und es bleibt zu hoffen, dass es vom Publikum angenommen wird und den sechs Vorstellungen in der laufenden Saison noch weitere in künftigen Spielzeiten folgen. Roland Ludwig |
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