Ives, Ch. (Morlot, L.)
Sinfonien Nr. 3 & 4 u. a.
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Info |
Musikrichtung:
Klassische Moderne Orchstert
VÖ: 11.03.2016
(Seattle Symphony / Naxos / CD / AD 2014-15 / DDD / Best. Nr. SSM1009)
Gesamtspielzeit: 71:49
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RADIKAL UND UNVERBRAUCHT
Einhundert Jahre alt wird Charles Ives monumentale Symphony No. 4 in diesem Jahr. Und hört man sie in dieser Neueinspielung durch die Seattle Symhony unter der Leitung von Ludovic Morlot, dann hat sie, anders als viele andere Werke der Moderne, so gar nichts von ihrer Radikalität und Frische verloren. Ives ist der erste große amerikanische Komponist - und er ist ein sehr amerikanisches "Originalgenie", das an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert das Beste der romantischen und der neuen, von ihm entdeckten Klangwelten verbunden hat.
Wie Ives in seiner 4. Sinfonie Naturklänge und Menschenmusik in einer großen Synthese vereint, um die große Frage nach dem "Was?" und "Wozu?" des Lebens zu beantworten, klingt immer noch avantgardistisch und zugleich sehr vital.
Da verschmelzen die Klänge der Welt in einem irisierenden Streicherklang zum "Tönen der kosmischen Lyra" (eine Anlehnung an Thoreaus "Walden"), bevor der Chor mit einem getragenen Choral anhebt ("Watchman, tell us of of the night ...") (1. Satz - die Frage).
Da fahren Hymnen, Märsche, Choräle und Ragtimemotive wie auf einem Rummelplatz in mehreren unterschiedlich getakteten Orchesterkarrussels um die Wette, bis die Musik unter ihrem eigenen Irrwitz implodiert (2. Satz - 1. Antwort).
Dagegen gemahnt die Emphase einer klassischen und doch nicht akademischen Fuge an die Heimeligkeit der traditionellen Religion, die freilich auch keine endgültige Antwort zu geben vermag (3. Satz).
Schließlich werden im 4. Satz all diese neben- und gegenläufigen Kräfte vereint und unter großer Spannung von einem unaufhaltsamen, machtvoll vorwärtsdrängenen Klangstrom mitgerissen, der in einen wortlosen, sich vielfach auffächernden Schlusschoral mündet - dies ist die vorläufig letzte Antwort. Untergründig pulsiert das Schlagwerk dazu in den Rhythmen des Universums ... (tatsächlich sollte dieser 4. Sinfonie, die das irdische Leben zum Thema hat, eine 5. folgen, die den Titel "Universe Symphony" trug, die Ives aber nicht mehr vollenden konnte).
Das alles wird vom amerikanischen Orchester und mehreren Haupt- und Neben-Dirigenten nicht nur außgesprochen textgenau und mit Sinn für die Dramaturgie der Details präsentiert, sondern auch tontechnisch ebenso transparent wie warm- und volltönend dargeboten (andere Einspielungen gehen da mitunter trockener, dafür etwas zugespitzer zu Werke). Tatsächlich dürfte es sich um die am besten klingende Fassung von Ives Opus Maximum handeln, die die meisten Feinheiten der oft überdichten Partitur enthüllt und zugleich ihre dramatischen, lyrischen und konzertanten Qualitäten ausschöpft. Klarheit und Präsenz, Sinnlichkeit und großer Atem verbinden sich überzeugend.
Gelungen ist auch die tiefenräumliche Staffelung des übergroßen Orchesters, das oft in mehrere Sub-Ensembles aufgeteilt ist, die unabhängig voneinander spielen müssen. Einzelne Instrumente werden akustisch immer wieder in den Vordergrund gerückt, so dass das Ohr sich orientieren kann.
Der Komponist, der in seinem 1. Leben ein erfolgreicher Versicherungskaufmann war, musste sich nicht darum bekümmern, ob seine Werke jemals aufgeführt würden, weil er finanziell unabhängig war. Darum brauchte er auch keine Rücksicht auf ihre Publikumswirksamkeit und Aufführbarkeit zu nehmen.
Dass Ives auch traditioneller komponieren konnte, hört man bei seiner 3. Sinfonie "The Camp Meeting", einem "Frühwerk". Zwar findet sich auch hier schon ein dichtes, wucherndes Geflecht aus verschiedenen Hymnen und Chorälen, die Musik bleibt aber in ihrer romantisch-tonalen Grundierung und übersichtlichen Satztechnik im Hörhorizont des späten 19. Jahrhunderts. Gleichwohl war die kumulative Technik, mit der Motive in- und übereinander geführt werden und sich immer wieder verwandeln, noch neuartig genug für das (bis heute) recht konservative amerikanische Publikum. Für dieses Werk, das wie fast alles von Ives erst Jahrzehnte nach seiner Entstehung aufgeführt wurde, gewann der Komponist den Pulitzer-Preis.
Zwei kurze "Klassiker" des Komponisten bilden das Intermedium auf dieser CD: The Unanswered Question und Central Park in the Dark sind Einsätzer, in der sich Ives reife Meisterschaft zeigt. Beide behandeln auf ihre Weise jene Fragen, die auch in der 4. Sinfonie das Thema vorgeben. The Unanswered Question gibt eine ernste, elegische Antwort; Central Park in the Dark reagiert bei aller geheimnisvollen Naturbeschwörung eher mit Humor: Im ersten Werk stellt die Trompete über einem unergründlichen Streicherklang die Seins-Frage, ein Flötenensemble antwortet darauf zunehmend dissonant-gereizter, am Schluss bleibt nichts als der ewige Klanggrund der Streicher zurück. Im zweiten Stück klingt in die atmende Stille des Central Parks - wieder eine Art Streicherchoral aus schwer greifbaren, schwebenden Harmonien - nach und nach die Musik der Großstadt hinein: Ragtimeklänge, Menschen- und Verkehrslärm steigern sich zu einer irrwitzigen Kakophonie, die abrupt abricht. Auch hier bleibt am Ende nur die tönende Stille des Anfangs - geheimnisvoll, unauslotbar, ewig.
Als Einführung in Ives Werk empfiehlt sich diese CD unbedingt. Man stelle ihr noch das Album "Charles Ives - An American Journey (Orchesterwerke und Lieder)" mit dem San Francisco Symphony Orchestra unter dem Ives-Experten Michael Tilson Thomas (Sony) und die Einspielung der "Holidays Symphony" (durch die nämlichen Interpreten auf dem hauseigenen Label SFS) zu Seite. Das Ergebnis ist ein wirklich faszinierendes und bewegendes Komponistenporträt in exzellenten Darbietungen.
Georg Henkel
Trackliste |
1 | 01-04 Sinfonie Nr. 4 |
2 |
05 The Unanswered Question |
3 |
06 Central Park in the Dark |
4 |
07-09 Sinfonie Nr. 3 "The Camp Meeting" |
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Besetzung |
Seattle Symphony & Chorus
Ludovic Morlot: Leitung
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