Musik an sich


Reviews
Hauer, J. M. (Schleiermacher)

Etüden op. 22


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Klavier

VÖ: 01.02.2012

(MDG / Codaex / CD / DDD / 2010 / Best. Nr. MDG 613 1640-2)

Gesamtspielzeit: 60:42



KÜHLE EKSTASEN

Unter den merkwürdigen Komponisten des 20. Jahrhundert war er gewiss einer der merkwürdigsten: Josef Mathias Hauer wurde 1883 geboren und starb 1959 weitgehend vergessen und verarmt in Wien. Dabei hatte er etwas zeitgleich mit Arnold Schönberg eine Methode des Zwölftonkomposition entwickelt und in den 1920er Jahren wurden seine Werke auch häufig aufgeführt. Doch im Gegensatz zu Schönberg, der die traditionelle tonal basierte Harmonik völlig aufgab, hielt Hauer in gewisser Hinsicht daran fest. So klingt seine Musik an der Oberfläche zunächst traditioneller – wenngleich sie nicht tonikal organisiert ist. Die klassischen Kadenzierungen oder ein Interesse an der Vermittlung von subjektivem Ausdruck findet man dort nicht. Es gibt allerdings Tonzentren bzw. bestimmte wiederkehrende Intervallkonstellationen, die sich aus dem jeweils gewählten Vorrat der 12 chromatischen Tonschritte ergeben. Hauer spricht in diesem Zusammenhang nicht von Zwölftonreihen, sondern von Tropen und deutet damit eine Verwandtschaft zu mittelalterlichen Musikvorstellungen an. Aus den schier unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten der zwölf Töne hat er 44 solche Tropen abgeleitet.

In seinen Etüden Op. 22, die hier erstmals durch Steffen Schleiermacher in einer exemplarischen Einspielung vorliegen, werden die Tropen in ihren Möglichkeiten erprobt. Von daher sollte man besser von Kompositionsstudien sprechen; an der Schulung der Fingerfertigkeit zeigt sich Hauer nur insofern interessiert, als er auf Tempoangaben oder Artikulations- und Dynamikbezeichnungen verzichtet und all dies dem Interpreten überlässt. Der Kargheit des Notenbildes entspricht das eigentlich Neuartige, das diese Musik auszeichnet: ihre Ausdrucks- und Leidenschaftslosigkeit, ihr Verzicht auf jegliches Drama zugunsten kristalliner Klarheit und großzügiger, lichter Architektur.
Während Schönberg im Grunde auf der expressiven Linie der Romantik fortkomponiert, gibt Hauer diese Expressivität völlig auf. Wenn er trotzdem von „jubelnden Klangorgien“ spricht, dann entspricht dies eher einer überpersönlichen Freude und kühlen Ekstase. Die Musik besteht in weiten Teilen aus Akkordsequenzen, Akkordbrechungen, Skalengängen, die manchmal mandalaartig um eine Achse rotieren und den Hörer in ein harmonisches Niemandsland führen, in der alles mit allem verbunden erscheint, ohne sich in dodekaphonen Graustufen zu verlieren. Das nimmt sich – bei einer gewissen, nicht unaparten Monotonie und weitgehender Vernachlässigung des Rhythmus – einigermaßen suggestiv, ja hypnotisch aus. Man wartet – und erwartet – es geschieht alles und nichts – und man kommt doch nicht davon los. Nicht-Aktion, Nicht-Ausdruck, Nicht-Subjektivität. Gewisse schwärmerisch anmutende Gesten des romantischen Repertoires finden sich zwar, da es aber an den typischen Kadenzen und einer inhärenten Dramatik fehlt, wirken sie eher ornamental. Sie führen zu nichts, bedeuten auch nichts außer die Ausstellung der jeweiligen Tonkonstellationen.
Komponieren als abstraktes Spiel – nicht umsonst diente Hauer Schriftstellern wie Franz Werfel, Hermann Hesse oder auch Thomas Mann als Vorbild für ihre Romanfiguren zeitgenössischer und esoterisch orientierter Komponisten bzw. Künstlertypen: Matthias Fischböck, Josef Knecht, Adrian Leverkühn. In seiner objektiven, kosmisch orientierten Musikästhetik berührt sich Hauer mit diversen Strömungen seiner Zeit, wie etwa den Vertretern der Bauhaus-Bewegung. In so unterschiedlichen Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und John Cage hat er, trotz divergierender Vorstellungen und einer gänzlich anderen Klangwelt, in gewisser Hinsicht Nachfolger gefunden. Die Musik beider Komponisten ist ebenfalls transzendental, kosmisch und nicht-tragisch.

Die Einspielung profitiert von der Erfahrenheit Schleiermachers mit diesem abgelegenen Repertoire. Er findet überzeugende Lösungen für die Leerstellen der Partitur, die wie aus einem Guss klingt. Bereits seine Interpretation von Hauers weitgehend monodisch konzipierter Atonaler Musik op. 20 sorgte vor einigen Jahren für Aufsehen. Hier – wie auch in manchen Teilen der Etüden – wirkt Hauer wie eine dodekaphoner Satie, zudem erweist sich seine enigmatische Musik für die meditativen Bedürfnisse heutiger Hörer wie geschaffen. Nach und nach scheint dieser seltsame Komponist also in der Gegenwart anzukommen und fügt sich mit seinem Zwischenreich aus Tradition und radikaler Modernität in das postmoderne Spektrum ein, ohne freilich wirklich zu diesem dazu zu gehören.
Ein weiterer Clou dieser Aufnahme ist das verwendete Instrument: Ein Steinway D aus dem Jahr 1901 mit herrlich vollklingenden Obertönen. Der ikonenhafte Eindruck der Musik wird dadurch sozusagen golden überhöht.
Faszinierend!



Georg Henkel



Besetzung

Steffen Schleiermacher: Klavier


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