Chopin, F. (Khouri)
27 Etuden (op. 10, op. 25 & Nouvelles Etudes)
SCHOCKIEREND, KAKOPHONISCH
Interpret dieser herausfordernden Interpretation der 27 Klavieretüden von Frederic Chopin ist der Amerikaner John Khouri. Khouri spielt auf einem Flügel der Firma Broadwood aus dem Jahre 1832. Der mattierte Klang dieses Instruments mit seinen sehr dominanten, perkussiven tiefen Registern, den samtigen Mittellagen und einem feinen, perlmuttfarbenen Diskant ist gewiss gewöhnungsbedürftig und stellt manche Steinway-geprägten Hörgewohnheiten auf den Kopf. Die vollgriffigen Bässe werden gegenüber dem brillanten Passagenwerk deutlich bevorzugt, so dass der virtuose Höhenrausch mehr im Hintergrund glitzert. Aufgrund der ausgeprägten Klangfarben meint man mitunter drei verschiedene Instrumente zu hören! „Schockierend“, so Khouri in seinen ausführlichen Erläuterungen, dürften für die unvorbereiteten Hörer allerdings noch mehr die mitunter extrem raschen Tempi sein. Die Etüden op. 10, Nr. 3 (Dauer: 02’53) und 6 (Dauer: 01’34) werden etwa doppelt so schnell wie üblich dargeboten, aber auch Nr. 4, 8 und 10 und op. 25, Nr. 7 und 11 eilen hier in einer rekordverdächtig kurzen Spielzeit vorüber. Dabei richtet sich der Interpret lediglich nach den originalen Metronomangaben Chopins, die offenbar schon vor dem 20. Jahrhundert weitgehend ignoriert wurden. Diese Entwicklung hat wohl weniger etwas mit den technischen Herausforderungen dieser fingerbrecherischen Musik zu tun, als mit den eigenwilligen Wirkungen der Entschleunigung. Schon Zeitgenossen empfanden Chopins Klavierübungen als „kakophonisch“. Dank der kompromisslosen, in jeder Hinsicht verschärften Interpretation von John Khouri kann man diese Erfahrung heute noch einmal machen.
Originalinstrument und Originaltempi hin oder her: Es handelt sich natürlich um eine hypothetische, subjektive Interpretation, die sich lediglich von musikhistorischen Kenntnissen und instrumentenspezifischen Eigenarten inspirieren lässt. Der Effekt ist, wie gesagt, anfänglich schockierend, dann faszinierend und am Ende leider auch ermüdend. Was sich zunächst wie eine Vorahnung der „Neuen Musik“ ausnimmt, dürfte wohl in der Hauptsache das Ergebnis von Khouris Zugriff sein. Die bisweilen ruppige Agogik und kleinteilige Phrasierung wirken auf Dauer überspannt. Auch die dynamischen Unterschiede zwischen den Registern scheinen unnötig forciert, so dass Tempo und Gestaltung nicht ins notwendige Gleichgewicht finden. Das Bild von einem schlecht gekuppelten Auto drängt sich auf: Beim Schalten von einem Gang in den nächsten geht ein Ruck durch den Wagen. So zuckt und ruckt die Musik hier über weite Strecken zwar in bewundernswert zackigem Tempo vorüber, wirkt dabei aber oft holprig (sei es, weil die Mechanik des Instruments nicht gleichmäßig anspricht, sei es, weil der Pianist in den rasenden Läufen einige Töne unterschlägt). Am Ende bleibt allein der technische Aspekt übrig, Charakter und Ausdruckswerte der einzelnen Stücke hingegen werden unkenntlich. Alles klingt irgendwie gleich. Trotz des im Prinzip richtigen Ansatzes ist das Ergebnis unbefriedigend.
Wer sich dafür interessiert, wie bei Chopin bei vergleichbar heiklen technischen Voraussetzungen – aber mit ganz anderem Repertoire - ein wirklich hinreißendes Ergebnis erzielt werden kann, dem sei eine Einspielung von Paul Schoonderwoerd (Alpha 040/Note1) ans Herz gelegt.
Georg Henkel
Trackliste |
01-12 Grande Etudes op. 10 (1833) 13-24 Etudes op. 25 (1837) 25-27 Nouvelles Etudes (1839) |
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Besetzung |
John Kouhri, Broadwood Grand Piano 1832
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