Mark Padmore (Zoroastre), Nathan Berg (Abramane), Gaelle Méchaly (Amélite), Anna-Maria Panzarella (Érenice) u. a.; Les Arts Florissants, William Christie / Erato Disques
Eine angemessene Bühnenproduktion von Jean-Philippe Rameaus vierter großer Oper ›Zoroastre‹ würde heutzutage den tricktechnischen Aufwand eines Hollywoodfilms oder Webber-Musicals erfordern. Bereits bei der Uraufführung der ersten Fassung 1749 in Paris übertraf der Aufwand alles bisher dagewesene. Donner und Blitz, Sturm und Feuer, Elementargeister und Dämonen mussten überzeugend auf die Bühne gebracht werden. Immerhin kämpften hier die Mächte des Guten und Bösen, personifiziert durch den abgründig bösen Magier Abramane und den edlen Feuerpriester Zoroastre, um die Herrschaft über das exotische Land Baktrien.
Diesmal hatte der Librettist Cahusac die Motive für die Handlung einmal nicht - wie in der französischen Barockoper üblich - aus dem Fundus antiker Mythologien, sondern aus der persischen Religion genommen: Zoroaster bzw. Zarathustra ist der Begründer des Parsismus (um 1000 v. Chr.). Mit dem Feuer- und Reinheitskult Zoroasters wollte der Autor auf die Lehre und Ethik der aufklärerischen Freimaurer anspielen, denen er - und wohl auch Rameau - angehörte.
Doch Hollywood-Ästhetik und literarischer Anspruch vertragen sich nicht unbedingt: Das Publikum vermißte über dem zeitgeistigen, gelehrten Ideentheater die übliche Liebesintrige, was dem Werk schließlich nur einen relativen Erfolg bescherte. Und so überarbeitete der Komponist zusammen mit seinem Librettisten die Oper einige Jahre später grundlegend und verstrickte den Helden Zoroastre in der Zweitfassung in Liebeshändel. Er hat sich zwischen der bis zum Wahnsinn eifersüchtigen Prinzessin Érenice, die mit Abramane paktiert, und der engelsgleichen Prinzessin Amélite zu entscheiden. Das ging zwar etwas auf Kosten der übermenschlichen Größe Zoroasters, bescherte seinen Schöpfern aber einen ihrer größten Erfolge. Noch 1770 wurde mit dem Werk die neue Pariser Oper eröffnet, bevor es dann wie die übrigen Werke Rameaus über 100 Jahre völlig in Vergessenheit geriet.
William Christie und seinem Ensemble ist es zu verdanken, dass die ›Lyrische Tragödie‹ (bzw. ›Tragédie Lyrique‹ oder ›Tragédie en Musique‹, wie die Oper im barocken Frankreich hieß) seit den 80er Jahren nicht nur aus einem zweihundertjährigen Dornröschenschlaf erweckt wurde, sondern ihre Lebensfähigkeit auch auf der Bühne der Gegenwart beweisen konnte. Den Verdacht, hier handele es lediglich um steifes, höfisches Zeremonienspiel, haben Les Arts Florissants durch ihre Produktionen, - darunter Opern von Jean-Baptiste Lully, André Campra und Marc Antoine Charpentier - mehr als einmal entkräftet.
Ihre Neuaufnahme des "Zoroastre", Rameaus vierter "Tragédie", macht da keine Ausnahme. Das Werk war bislang nur in einer zwar klangschönen, aber wenig dramatischen Einspielung erhältlich (mit Sigiswald Kuijken und ›La Petite Bande‹, Deutsche Harmonia Mundi/BMG 1983/1991). Obschon nicht so reich an spektakulären musikalischen Tableaus wie die früheren Werke Rameaus, ist die Oper dennoch voll von schöner, origineller und manchmal auch atemberaubender Musik. Höhepunkt ist sicherlich der 4. Akt, den die Bösen ganz für sich haben. Hier verspricht das Cover mit einem Ausschnitt aus Rubens ›Höllensturz der Verdammten‹ sicherlich nicht zuviel, selbst wenn der Komponist hier auf jene kühnen
harmonischen Experimente, für die er bei seinem Publikum berühmt und berüchtigt war, verzichtete. Ihre Kraft gewinnt die Musik vor allem aus den markigen Rhythmen und sich mitunter überschlagenden Tempi. Rameaus unverhüllte Darstellung des gewaltbereiten Hasses von Abramane, Érenice und Spießgesellen mit düsterer Fagott- und Streicherbegleitung, die wilden Tänze und nachgerade orgiastischen Choreinlagen lassen die oboen- und flötenseligen Guten allerdings etwas blass aussehen. Zudem fügt sich in der Fassung von 1756 das Geschehen etwas zu rasch und problemlos zum unverzichtbaren Happy End. Und dies, obwohl der Komponist und sein Librettist versuchten, das eigentliche Drama deutlicher zu
profilieren. Schnelle "Schnitte" und überraschende klangliche ‚Beleuchtungswechsel' bedingen im ganzen Werk eine noch größere Kleinteiligkeit der Struktur als sonst und führen - gemessen an den früheren Opern - zu einer Reduktion von Chor- und Tanzmusik zugunsten des - allerdings sehr ausdrucksvollen und flexibel gehandhabten - Rezitativs.
Christie und seine Musiker tragen dem durch ihren spannungsvollen, vorwärtsdrängenden Ansatz Rechnung: Wunderbar gelingt die Synthese aus sensibler, affektvoller Gestaltung und farbigem Musizieren, was insbesondere die häufig zu Unrecht als langweilig empfundenen Rezitative zu aufregendem Musiktheater werden läßt. Die originelle Begleitung wird vom Orchester kongenial umgesetzt. Selten hörte man Les Arts Florissants so energisch musizieren wie in dieser Aufnahme.
Sämtliche Solisten agieren ausgezeichnet, allen voran Mark Padmore mit seinem wunderbar wandlungsfähigen lyrischen Tenor: strahlend in der Höhe, aber auch kernig und zupackend, wo es nötig ist. Der Sänger verfügt damit über alle Qualitäten, um der heroisch-galanten Figur des Zoroastre Glaubwürdigkeit zu verleihen. Gaelle Méchalys strahlende, dabei naiv-unschuldige Amélite, steht ihm - librettobedingt - zwar eher dekorativ zur Seite. Dafür sorgt dann Anna-Maria Panzarella mit ihrem dunkleren, reiferen, aber dennoch höhenstarken Timbre als in blutrünstigen Rache-Fantasien schwelgende Érenice für den notwendigen Kontrast. Mit dräuend-tiefem, in der Höhe aber nicht immer ganz ausgewogenen Bass agiert Nathan Berg als Abramane, wobei er überzeugend angemaßte Herrscherpose und genießerische Bösartigkeit verbindet. Und der famose Chor agiert mit schier unglaublicher Attacke selbst bei den rasendsten Tempi. Dank der bestechenden Klangtechnik kommt die rundum überzeugende Ensembleleistung
bestens zu Geltung.
Einziges Manko der Aufnahme: Christie entschied sich dafür, acht Tänze aus den Divertissements der Akte zu streichen und in einen Anhang auf CD 3 zu verbannen. Dort bilden sie, dramaturgisch funktionslos geworden, eine Art Schlussballett. Offenbar wollte der Dirigent die Handlung noch stärker vorantreiben. In Konzertaufführungen mag das Sinn machen, bei einer Aufnahme hätte ich mir das vollständige Werk gewünscht, zumal die Tänze den notwendigen Gegenpol zum wortlastigen Rest des Dramas bilden.
19 von 20 Punkte
Georg Henkel