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Musik an sich
 
Carmina Burana / Ensemble Unicorn
(Naxos)
Mittelalter vokal / instrumental
 

Michael Posch und Ensemble Oni Wytars - Marco Ambrosini

Den ersten Mittelalter-Hit des 20. Jahrhunderts hat wohl Carl Orff komponiert. Der Eingangschor aus seiner "Carmina Burana" (1936) schaffte es bis in die Charts zeitgenössischer Süßwaren-Werbung. "O Fortuna, velut luna, statu variabilis" (O Fortuna, rasch wie Luna, wechselhaft und wandelbar) wird hier die Unberechenbarkeit des Schicksals besungen. Warum die Werbestrategen für die Anpreisung einer ganz irdischen Gaumenfreude wohl gerade diesen pessimistischen Abgesang auf die Unbeständigkeit irdischen Glücks ausgewählt haben? "Ewig steigend und sich neigend: Fluch der Unrast immerdar! Eitle Spiele, keine Ziele, also trügts den klaren Sinn; Not, Entbehren, Macht und Ehren schwinden wie der Schnee dahin." Schokolade schmilzt auch. Oder schwindet ... durch den Mund. Na also! Aber wahrscheinlich weckte die monumentale Klangkulisse der Orffschen Vertonung Assoziationen, die sich trefflich auf die mächtigen Schokoladen-Genüsse beziehen ließen ...

Dabei hat sich Carl Orff weder den Text für den Eingangschor noch für die übrigen Teile seines mittelalterlichen Musiktheaters selbst ausgedacht. Er entnahm ihn einer Handschrift aus dem 13. Jahrhundert, die 1803 in der Bibliothek der bayerischen Stift Benediktbeuren entdeckt wurde. Daher rührt auch ihr Name: Carmina Burana - Lieder aus Beuren. Es handelt sich um die umfassendste und berühmteste Sammlung mittellateinischer und mittelhochdeutscher Lieder und geistlicher Dramen. Die zweisprachige moderne Ausgabe liegt gerade vor mir: knapp 1000 Seiten stark. Wer wissen will, wie der Mensch des Mittelalters gelebt, geliebt, gesoffen, getanzt, gefressen, gelacht, geglaubt und gelästert hat, der schlage hier nach. Spiel- und Vagantenlieder, amoröse Dichtungen, Spottlieder und geistig-moralische Dichtungen, Passionsspiele ... Orffs "Carmina" bietet aus diesem gewaltigen Fundus einen geschickt kompilierten Querschnitt in einer eigentümlich archaisierenden Vertonung, über deren Verdaulichkeit man allerdings eher streiten kann, als über diejenige besagter Süßwaren.

Die Aufnahme, die ich hier vorstellen möchte, versucht hingegen, die Klangwelt des Originals - in Auszügen - zu rekonstruieren. Die spärlichen Notationshinweise der Handschrift benötigen allerdings kundige und kreative Interpreten, die musikhistorisches Wissen und musikalische Spontaneität miteinander zu verbinden wissen. Hier ist das "Ensemble Unicorn", das schon einige hervorragende Aufnahmen bei Naxos veröffentlicht hat (darunter eine packend-virtuose Wiedergabe mittelalterlicher Tanzmusik unter dem Titel "Chominciamento di gioa"), wieder einmal ganz in seinem Element - diesmal zudem im Verbund mit den Sängern und Musikern des Ensembles "Oni Wytars", deren Erfahrung mit alter türkischer und arabischer Musik der Einspielung eine zusätzliche orientalische Farbe verleiht.

Also: Hier werden alles andere als trockene musikoligische Laborexperimente geboten. Statt meditativ-esoterischer Verklärung, die mittelalterliche Musik häufig zu einer besinnlichen Teestunde werden lässt, gibt's hier das pralle Leben zu hören. Diese Version der "Carmina" präsentiert Lyrisches und Bukolisches, Melancholisches und Burleskes in einer gelungenen Mischung voller Ohrwürmer.

Gleich das eröffnende Sauf- und Preislied auf Bachus, den Gott des Weines und Rausches, gerät zu einer überschäumend vitalen Nummer. Flöten, Fiedeln, Hurdy-Gurdy, Sackpfeifen, Tambourin und Landknechtstrommel sorgen dabei für eine satten, farbigen Klang. In den weiteren Stücken treten noch Laute, Harfe und anderes Schlagzeug wie das Xylophon dazu, mit dem ich - seltsame Ironie - als Kind schon in der "Orffschen Musikschule" mehr Krach als Musik gemacht habe.

Wie bei einer Band präsentieren sich einzelne Instrumente auch solistisch. Doch die Musiker handhaben nicht nur ihre Instrumente perfekt, sondern sind auch begnadete Sängerdarsteller. Allen voran der Altist Bernhard Landauer, der die zarten Töne mit berückender Schönheit singt, ohne dass die derberen Momente darüber zu kurz kommen würden: Sein finaler Traverstie-Auftritt als scharfe "Maid" im lasziv-sinnlichen "Tempus est iocundus" ist tatsächlich einmal, man mags kaum glauben ... komisch!

Ein Volltreffer. Es geht eben nichts über das "Original". Auch angesichts des Preis-Leistungsverhältnisses:

20 von 20 Punkte

Georg Henkel

 

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