Musik an sich Vocatus - Geld verdienen mit Beschwerden!

Artikel


Inhalt
News
Reviews
Leserbriefe
Impressum



Musik an sich
 
Vergesst "Papa Haydn"! - Marc Minkowski und das Mahler Chamber Orchestra in der Düsseldorfer Tonhalle (Konzert am 22. März 2003)
 

Die komische Einlage vorab: Marc Minkowskis Assistent betrat kurz vor Beginn des Konzerts das Auditorium, um die Noten auf das Pult des Maestro zu legen. Freundlicher Willkommensapplaus für den vermeintlichen Dirigenten. Irritiertes Klatschen, als er darauf das Podium achselzuckend wieder verlässt, dann Gelächter - man hat begriffen: Das war offensichtlich nicht der Dirigent!
Der betrat dann einige Minuten später den Saal. Und legte los. Nach diesem fulminanten Einstand mit Werken von Bizet, Berlioz und Haydn dürfte ihn das Düsseldorfer Publikum beim nächsten Mal wohl nicht mehr so schnell verwechseln. Schon sein ungemein körperliches Dirigat besitzt eine unnachahmliche darstellerische Qualität; er zeigt mehr die Musik mit den Armen, als dass er einfach den Takt schlägt. Unkonventionell wie seine Aktion ist auch sein interpretatorischer Ansatz.

Minkowski

Minkowski (Jahrgang 1962), verließ die Schule noch vor dem Abitur. Eigentlich ausgebildeter Fagottist, gründete er mit zwanzig er sein eigenes Ensemble, die auf historischen Instrumenten spielenden "Les Musiciens du Louvre". Als Dirigent zunächst Autodidakt, vervollkommnete die handwerkliche Seite aber später bei Charles Bruck an der Pierre Monteux Conducting School in Hancock / USA. Bekannt geworden ist er durch seine spektakulären Interpretationen selten gespielter Werke des französischen und italienischen Barock, hat aber seit einigen Jahren sein Repertoire bedeutend erweitert: Mozart, Offenbach, Rossini, Berlioz, ja selbst Wagner, Debussy und Arvo Pärt standen u. a. schon auf seinen Programmen. Dazu kommen die intensivierte Arbeit mit verschiedenen "traditionellen" Orchestern und Auftritte bei zahlreichen renommierten Festivals: Aix-en-Provence, Salzburger Festspiele, Ruhrtriennale. Im kommenden Monat wird er erstmalig zusammen mit den Berliner Philharmonikern musizieren. Mit dem Mahler Chamber Orchestra, sozusagen die Erwachsenenabteilung des von Claudio Abbado gegründeten Gustav Mahler Jugend Orchesters, verbindet ihn schon seit 1999 eine regelmäßige Zusammenarbeit. Das junge, international besetzte Ensemble spielt nicht unter einem festen Leiter, sondern wählt diesen jeweils für ein bestimmtes Projekt aus. Im Juni wird als erste gemeinsame Aufnahme mit Marc Minkowski Hector Berlioz' (1803-1869) "Symphonie Fantastique" bei der Deutschen Grammophon erscheinen, im September folgt dann beim gleichen Label eine Produktion mit französischen Arien, gesungen von der tschechischen Mezzosopranistin Magdalena Kozená.

Georges Bizet

Minkowski gehört zu einer jüngeren Generation von Dirigenten, die sich ganz selbstverständlich zwischen den musikalischen Welten von der Alten bis zur Neuen Musik bewegen, dabei die Errungenschaften der historischen Aufführungspraxis und die Möglichkeiten eines modernen Sinfonieorchesters gleichermaßen zu schätzen wissen - beste Voraussetzungen also für ein Musizieren ohne dogmatische Scheuklappen.
Von seiner Erfahrung mit der Tanzmusik des französischen Barock, so aus den Opern von Jean-Philippe Rameau und Jean Baptiste Lully, profitierte hörbar gleich der erste Programmpunkt, Georges Bizets (1838-1875) "Arlésienne-Suite". Ursprünglich als Bühnenmusik für ein heute fast vergessenes Theaterstück von Alphonse Daudet komponiert, stellte bereits Bizet vier Sätze daraus zu einem populären Potpourri zusammen. Minkowski und das fabelhaft aufgelegte Mahler Chamber Orchestra boten dagegen eine fast vollständige Wiedergabe der instrumentalen Teile: ein schillerndes Mosaik aus elegischen Adagios, atmophärischen Intermezzi und exotisch-burlesken Tänzen, stellenweise von großer Eingängkeit. Zupackend virtuos, mit rhythmischem Drive und in leuchtender Farbigkeit machten Musiker und Dirigent daraus ein regelrechtes Hör-Drama, das keiner Szene mehr bedurfte: Theater ohne Worte und zugleich eine Vorahnung moderner Filmmusik. Allerdings führte das Bestreben, die Kontraste aufs äußerte auszureizen, zu einem gelegentlich etwas forcierten Musizieren. Da gab es schon mal ein bedenkliches Knartschen der Streicherseiten zu hören - und das will bei modernen Instrumenten etwas heißen. Zwar konnte man in der hellhörigen Akustik der Tonhalle selbst das Rascheln von umgewendeten Notenblättern vernehmen, im Klangspektrum fehlte es jedoch insgesamt etwas an brillanten Höhen. Mag sein, dass Minkowski und das Mahler Chamber Orchestra gegen diesen Mangel anspielten.

Hector BerliozJoyce DiDonato

Dass eine zurückhaltenere Herangehensweise nicht notwendig weniger Effekt macht, bewies der Liederzyklus "Nuits d'été" ("Die Sommernächte") von Hector Berlioz nach Gedichten von Théophile Gautier. Leider musste der Star des Abends, die schwedische Mezzosopranistin Anne Sophie von Otter krankheitsbedingt absagen. An ihrer Stelle sang die Amerikanerin Joyce DiDonato. Zwar mochte der eine oder andere Hörer die suggestive Expressivität der Otter vermissen, doch der warme, sinnlich-expressive Ton von DiDonatos Mezzo und ihre sensible, jede Phrase auskostende Gestaltung waren ein mehr als adäquater Ersatz. Minkowski begleitete hier mir großer Delikatesse und schuf durch sein Schattierungsvermögen und koloristisches Gespür einen atmophärisch dichten Klangraum für die vokale Darstellung.

Joseph Haydn

Nach der Pause dann Joseph Haydns (1732-1809) 12. und letzte Londoner Sinfonie, als Nr. 104 zugleich das Finale seines sinfonischen Schaffens. Haydns Musik, deren angeblich heiter-beschwingte, manchmal auch etwas biedere Harmlosigkeit man durch Mozarts missverständliches Diktum vom "Papa Haydn" lange Zeit lediglich bestätigt sah, setzte in der Interpretation von Minkowski und Mahler Chamber Orchstra einen mitreißenden Schlusspunkt. Hier geriet der vielbeschworene Klassizismus Haydns einmal nicht zu einer elegant geglätteten Oberfläche, sondern zu einer bemerkenswerten Synthese, die die Traditionen des Barock und der Klassik auf die musikalische Zukunft - Beethoven, ja selbst Bruckner klangen an - hin öffnet.
Anders als bei Mozart, in dessen Musik eine latente Irritation und Beunruhigung stets gegenwärtig ist, bricht Haydn den vordergründig unproblematischen Gang seiner Musik durch unerwartete Episoden: jähe Generalpausen, Moll-Wendungen und harmonische Trübungen, solistische Einlagen, verfremdende Variationen des Materials und - ja, in der Tat - Humor und Ironie. Von den wuchtigen Adagio-Akkorden des Beginns, über das geschmeidig ausgesungene Andante und die Irrgänge des Menuetss bis hin zu den rasenden Läufen des Finales loteten Minkowski und sein Orchester sämtliche Facetten des Werkes aus.
Tosender Applaus.

Georg Henkel

 

Inhalt | Impressum | News | Reviews | Leserbriefe
zur Homepage | eMail Abo bestellen | Download aktuelle Ausgabe