Die komische Einlage vorab: Marc Minkowskis Assistent betrat kurz vor
Beginn des Konzerts das Auditorium, um die Noten auf das Pult des
Maestro zu legen. Freundlicher Willkommensapplaus für den vermeintlichen
Dirigenten. Irritiertes Klatschen, als er darauf das Podium
achselzuckend wieder verlässt, dann Gelächter - man hat begriffen: Das
war offensichtlich nicht der Dirigent!
Der betrat dann einige Minuten später den Saal. Und legte los. Nach
diesem fulminanten Einstand mit Werken von Bizet, Berlioz und Haydn
dürfte ihn das Düsseldorfer Publikum beim nächsten Mal wohl nicht
mehr so schnell verwechseln. Schon sein ungemein körperliches Dirigat
besitzt eine unnachahmliche darstellerische Qualität; er zeigt mehr
die Musik mit den Armen, als dass er einfach den Takt schlägt.
Unkonventionell wie seine Aktion ist auch sein interpretatorischer
Ansatz.
Minkowski (Jahrgang 1962), verließ die Schule noch vor dem Abitur.
Eigentlich ausgebildeter Fagottist, gründete er mit zwanzig er sein
eigenes Ensemble, die auf historischen Instrumenten spielenden
"Les Musiciens du Louvre". Als Dirigent zunächst Autodidakt, vervollkommnete
die handwerkliche Seite aber später bei Charles Bruck an der Pierre
Monteux Conducting School in Hancock / USA. Bekannt geworden ist
er durch seine spektakulären Interpretationen selten gespielter Werke
des französischen und italienischen Barock, hat aber seit einigen Jahren
sein Repertoire bedeutend erweitert: Mozart, Offenbach, Rossini,
Berlioz, ja selbst Wagner, Debussy und Arvo Pärt standen u. a. schon
auf seinen Programmen. Dazu kommen die intensivierte Arbeit mit
verschiedenen "traditionellen" Orchestern und Auftritte bei zahlreichen
renommierten
Festivals: Aix-en-Provence, Salzburger Festspiele, Ruhrtriennale. Im
kommenden Monat wird er erstmalig zusammen mit den Berliner
Philharmonikern musizieren. Mit dem Mahler Chamber Orchestra, sozusagen
die Erwachsenenabteilung des von Claudio Abbado gegründeten Gustav
Mahler Jugend Orchesters, verbindet ihn schon seit 1999 eine regelmäßige
Zusammenarbeit. Das junge, international besetzte Ensemble spielt
nicht unter einem festen Leiter, sondern wählt diesen jeweils für ein
bestimmtes Projekt aus. Im Juni wird als erste gemeinsame Aufnahme mit
Marc Minkowski Hector Berlioz' (1803-1869) "Symphonie Fantastique"
bei der Deutschen Grammophon erscheinen, im September folgt dann beim
gleichen Label
eine Produktion mit französischen Arien, gesungen von der tschechischen
Mezzosopranistin Magdalena Kozená.
Minkowski gehört zu einer jüngeren Generation von Dirigenten, die sich
ganz selbstverständlich zwischen den musikalischen Welten von der
Alten bis zur Neuen Musik bewegen, dabei die Errungenschaften der
historischen Aufführungspraxis und die Möglichkeiten eines modernen
Sinfonieorchesters gleichermaßen zu schätzen wissen - beste
Voraussetzungen also für ein Musizieren ohne dogmatische
Scheuklappen.
Von seiner Erfahrung mit der Tanzmusik des französischen Barock, so
aus den Opern von Jean-Philippe Rameau und Jean Baptiste Lully,
profitierte hörbar gleich der erste Programmpunkt, Georges Bizets
(1838-1875) "Arlésienne-Suite". Ursprünglich als Bühnenmusik für ein
heute fast vergessenes Theaterstück von Alphonse Daudet komponiert,
stellte bereits Bizet vier Sätze daraus zu einem populären Potpourri
zusammen. Minkowski und das fabelhaft aufgelegte Mahler Chamber
Orchestra boten dagegen eine fast vollständige Wiedergabe der
instrumentalen Teile: ein schillerndes Mosaik aus elegischen Adagios,
atmophärischen Intermezzi und exotisch-burlesken Tänzen, stellenweise
von großer Eingängkeit. Zupackend virtuos, mit rhythmischem Drive
und in leuchtender Farbigkeit machten Musiker und Dirigent daraus
ein regelrechtes Hör-Drama, das keiner Szene mehr bedurfte: Theater ohne
Worte und zugleich eine
Vorahnung moderner Filmmusik. Allerdings führte das Bestreben, die
Kontraste aufs äußerte auszureizen, zu einem gelegentlich etwas
forcierten Musizieren. Da gab es schon mal ein bedenkliches Knartschen
der Streicherseiten zu hören - und das will bei modernen Instrumenten
etwas heißen. Zwar konnte man in der hellhörigen Akustik der Tonhalle
selbst das Rascheln von umgewendeten Notenblättern vernehmen, im
Klangspektrum fehlte es jedoch insgesamt etwas an brillanten Höhen. Mag
sein, dass Minkowski und das Mahler Chamber Orchestra gegen
diesen Mangel anspielten.
Dass eine zurückhaltenere Herangehensweise nicht notwendig weniger
Effekt macht, bewies der Liederzyklus "Nuits d'été" ("Die Sommernächte")
von Hector Berlioz nach Gedichten von Théophile Gautier. Leider musste
der Star des Abends, die schwedische Mezzosopranistin Anne Sophie
von Otter krankheitsbedingt absagen. An ihrer Stelle sang die
Amerikanerin Joyce DiDonato. Zwar mochte der eine oder andere Hörer
die suggestive Expressivität der Otter vermissen, doch der warme,
sinnlich-expressive Ton von DiDonatos Mezzo und ihre sensible, jede
Phrase auskostende Gestaltung waren ein mehr als adäquater Ersatz.
Minkowski begleitete hier mir großer Delikatesse und schuf durch sein
Schattierungsvermögen und koloristisches Gespür einen atmophärisch
dichten Klangraum für die vokale Darstellung.
Nach der Pause dann Joseph Haydns (1732-1809) 12. und letzte Londoner
Sinfonie, als Nr. 104 zugleich das Finale seines sinfonischen Schaffens.
Haydns Musik, deren angeblich heiter-beschwingte, manchmal auch etwas
biedere Harmlosigkeit man durch Mozarts missverständliches Diktum vom
"Papa Haydn" lange Zeit lediglich bestätigt sah, setzte in der
Interpretation von Minkowski und Mahler Chamber Orchstra einen
mitreißenden Schlusspunkt. Hier geriet der vielbeschworene Klassizismus
Haydns einmal nicht zu einer elegant geglätteten Oberfläche, sondern
zu einer bemerkenswerten Synthese, die die Traditionen des Barock
und der Klassik auf die musikalische Zukunft - Beethoven, ja selbst
Bruckner klangen an - hin öffnet.
Anders als bei Mozart, in dessen Musik eine latente Irritation und
Beunruhigung stets gegenwärtig ist, bricht Haydn den vordergründig
unproblematischen Gang seiner Musik durch unerwartete Episoden: jähe
Generalpausen, Moll-Wendungen und harmonische Trübungen, solistische
Einlagen, verfremdende Variationen des Materials und - ja, in
der Tat - Humor und Ironie. Von den wuchtigen Adagio-Akkorden des
Beginns, über das geschmeidig ausgesungene Andante und die Irrgänge
des Menuetss bis hin zu den rasenden Läufen des Finales loteten
Minkowski und sein Orchester sämtliche Facetten des Werkes aus.
Tosender Applaus.
Georg Henkel