(Chicago Symphony Orchestra, Daniel Barenboim)
Die Uraufführung 1913 gilt als einer der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts - wobei der Tumult im Publikum wohl mehr der gewagten Choreographie, als der Musik geschuldet war. Skandal hin oder her: Stravinskys Ballett "Le sacre du printemps" (Das Frühlungsopfer) darf sich rühmen, eines der Schlüsselwerke der Neuen Musik zu sein. Der Komponist entfesselt über 30 Minuten kalkuliert barbarische Klänge und macht dabei den Rhythmus zum Hauptakteur: Ständig wechseln die Metren, reiben sich pulsierende Ostinati in mehrfacher Schichtung, einer riesigen Maschine nicht unähnlich. Die komplizierten Strukturen machen eine direkte tänzerische Umsetzung fast unmöglich und stellen höchste Anforderungen an das Orchester: verlangt wird eine kontrollierte Ekstase, die zur Brutalität fähig ist, ohne die Poesie des Werkes zu verraten.
Barenboim und dem Chicagor Symphonie Orchestra gelingt diese Gratwanderung beispielhaft. In kaum so gehörter Differenziertheit wird die Partitur ausgeleuchtet. Alle Stimmen sind präsent - ein Wunder angesichts des Riesenapparates. Und doch geht das Gefühl für das Ganze nicht verloren. Insbesondere die differenzierten, brillanten Klangfarben machen diese Aufnahme zum Erlebnis. Selten gab es bei einer Einspielung des Werks in den tiefen Registern wohl solche urweltlichen Töne zu hören. Die Blechbläser zusammen mit dem Schlagzeug sind eine Herausforderung für jede Hifi-Anlage. Aber auch die eher lyrischen Passagen, vor allem der Beginn des zweiten Teils, werden mit der angemessenen, nach innen gekehrten Intensität ausgespielt. Barenboim nimmt die Rhythmen eher straff, was den rituellen Charakter der Musik betont.
Gegen Stravinskys Kraftakt nimmt sich das zweite "Skandalstück", Debussys "La mer" sehr viel subtiler aus. Damals verweigerten sich während der Proben die Streicher, die aus Protest gegen die Zumutung weiße Tücher an ihren Bögen befestigten. Auch hier beweist Barenboim sicheres Gespür für die Palette an Klangfarben und Debussys Spiel mit absichtsvoll verwischten Strukturen - dieses schillernde Naturbild ist genau das Gegenteil von Stravinskys eher strenger Komposition. Als dritter im Bunde ist der zeitgenössische Komponist Pierre Boulez mit einem weiteren Teil seines "Work in progress", den "Notations VII" vertreten. Frappierend ist hier, wie nahe sich Debussy und sein Landsmann Boulez trotz völlig unterschiedlicher Ansätze im klanglichen Ergebenis kommen: auch bei Boulez dominieren zart verwobene Farbspiele des Orchesters, nur gelegentlich tritt aus den wogenden Klängen das zugrundeliegende Zwölftonmotiv heraus.
Fazit: Insgesamt ein lohnendes Programm, wobei die Einspielung von Stravinskys Ballett ohne Zweifel zu den wenigen Spitzenaufnahmen dieses Werkes gehört.
Repertoire: 5
Interpretation: 5
Klang: 5
Präsentation: 3 (Ziemlich dünn; trotz schicker Architekturfotographien: bei zwei Seiten zum Programm aber drei zum Dirigenten stimmen die Verhältnisse einfach nicht)
18 von 20 Punkte
Bezugsmöglichkeiten:
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