Irgendwo zwischen Bach und Brahms ist der klassischen Musik offenbar die Lust
am Improvisieren verloren gegangen. Je eindeutiger und bestimmter sich der
Wille der Komponisten in puncto Melodie, Harmonik, Rhymthmus, Tempo oder
Instrumentation äußerte, desto kleiner wurde der Spielraum für die
Interpreten. Man muß schon ein paar hundert Jahre in die Vergangenheit gehen,
um zu hören, daß die sogenannte U-Musik nicht immer das Monopol auf
improvisierte Musik hatte ... aber solche Etikettierungen sind bei der
Aufnahme, um die es hier gehen soll, sowieso fehl am Platz.
Vor einigen Wochen habe ich hier das Label Alia Vox und seinen Gründer, den
spanischen Gambisten Jordi Savall, vorgestellt. Seine jüngste, Anfang des
Jahres veröffentlichte Produktion "Ostinato" ist nicht nur eine Art
akustischer Reiseführer durch die barocke Ensemblemusik, sondern ein
exzellentes Beispiel für die gelungene Gradwanderung zwischen komponierter
und improvisierter Musik. Ein Ostinato ist eine Art Melodieformel in der
Baßstimme, die ständig wiederholt und variiert wird. Eine Art musikalischer
"Bausatz", vergleichbar etwa dem zwölftaktigen Blues-Schema. Auf der
aktuellen Aufnahme finden sich Variationen über die Gallarda, Passacalia,
Canarios, Ruggiero und andere barocke "Hits".
Dem Programm entspricht die farbige Besetzung: Gamben und Violinen für die
Oberstimmen, eine große Continuogruppe mit Cello, Kontrabaß, Laute, Gitarre,
Vihuela, Cembalo, Orgel und Harfe für die Baßstimme. Und für solch
tänzerische Musik einfach unverzichtbar: diverses Schlagzeug. Damit steht das
Ensemble Hespèrion XXI einer modernen Band näher, als einem klassischen Sinfonieorchester.
Savall und seine Mitstreiter spielen die Stücke mit der ihnen eigenen
Mischung aus virtuosem Klangsinn und hinreißender Spontaneität. Improvisiertes
und Auskomponiertes verbinden sie mit größter Selbstverständlichkeit. Und
Stück Nr. 10 ist sogar eine reine Improvisation über einen Canarios - der
Name ist ein Hinweis auf die Herkunft dieses Ostinatos von den Kanarischen
Inseln. Wie überhaupt die Nähe zur "Volksmusik" selbst in den verfeinerten
Werken Purcells und Pachelbels noch zu spüren ist. Purcells "Three Parts upon
a Ground" hört sich ein bißchen so an, als wenn der Komponist bei der
Abfassung betrunken gewesen ist - die Harmonien schwanken wie ein Schiff bei
hohem Seegang. Barocke Avandgarde, sozusagen. So klingt in seiner Version
über einen "Ground" etwas vom ursprünglich "barbarischen" und
"unmoralischen" Charakter vieler Ostinati an, bevor sie in der barocken
Kunstmusik höfisch "kultiviert" wurden. Die volksmusikalischen Wurzeln
bleiben insbesondere in den älteren Stücken immer hörbar, so z. B. bei der
mitreißenden "Gallarda Napolitana" von
Antonio Valente (Stück Nr. 1), bei der vor allem der Perkussionist Pedro
Estevan zeigt, wie man auch das Schlagzeug zum Singen bringen kann. Zu den
mehr tänzerischen Höhenflügen kommen einige ausgesprochen melancholische
Stücke. Von Pachelbel gibt es - natürlich - seinen berühmtesten Ohrwurm zu
hören, der ansonsten auf keiner Klassik-Compilation fehlen darf:
"Kanon und Gigue", hier nicht in der üblichen philharmonischen
"Barock zum Kuscheln"-Version, sondern witzig, geradezu gnomenhaft musiziert.
Fazit: Über 70 Minuten originelles Hörvergnügen.
Hörtips gibts unter: www.klassikakzente.de -
Einfach 'Ostinato' als Suchbegriff eingeben und sich bis zur Seite
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Repertoire: 5
Klang: 5
Interpretation: 5
Präsentation: 5
Gesamt: 20 von 20 Punkte
GEORG HENKEL
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