(Royal Scottish National Orchestra u.a., Georg Tintner)
Nach dem Tode Günter Wands sind sie wieder in aller Munde und Ohren: Die Symphonien Anton Bruckners (1824-1896). Kein Feuilleton, keine Kultursendung in TV und Radio kommt im Nachruf ohne Lobeshymne auf die "mustergültigen Interpretationen" aus, die Wand vorgelegt hat. Insgesamt spielte er die Symphonien sage und schreibe drei Mal ein.
Aber vor der Heiligsprechung darf doch wohl gefragt werden: Mustergültig? Ja! Strukturen in neuer Weise offenlegend ohne zu zerlegen? Ja! Stets auf höchstem Niveau und mit Orchestern unbestreitbarer Klangkultur? Ja! Aber: Das non-plus-ultra, die EINZIG wahren und authentischen Einspielungen? Nein!
Derartiges kann ohnehin nur behaupten, wer entweder die Komplexität brucknerschen Symphonieschaffens verkannt oder die Bandbreite alternativer Aufnahmen nicht zur Kenntnis genommen hat.
Eine, noch dazu preisgünstige und damit insbesondere für Neugierige oder Einsteiger attraktive, Alternative stellen die Interpretationen dar, die Georg Tintner, der 1999 verstarb, im Laufe der 90er Jahre bei Naxos vorgelegt hat. Naxos präsentiert die 11 CDs nun komplett in der Reihe "The White Box" für rund 40 Euro im platzsparenden Schuber, dazu mit einer höchst informativen - wenn auch leider nur englischsprachigen - 30seitigen Einführung.
Bruckners Werke sind keine leichte Kost. Oft geprägt von einer religiösen Grundidee und -überzeugung erreichen sie zeitlich und in der Wahl der Mittel eine monumentale Ausdehnung, verwirren durch Fugen und Doppelfugen, letztlich bietet zunächst allein die Leitmotivik Orientierung. Längst aber haben sich diese Sinfonien des von den Zeitgenossen als "halbverblödeten Spielmann Gottes" Geschmähten ihren Platz im Konzertsaal erobert, denn sie lassen Mal um Mal das Publikum staunend und fasziniert zurück.
Was macht nun gerade Tintners Zyklus hörenswert? Es ist in erster Linie sein Mut, die Extreme auszuloten, sowohl in der Dynamik, wie in den Tempi und den Phrasierungen. Er scheut sich nicht, die langen Bögen ausschwingen zu lassen, sich dafür mehr Zeit zu nehmen, als manch anderer Interpret. Er nimmt nichts von der Brachialgewalt zurück, mit der die Bläser so oft in den satten Streicherklang einbrechen. Dramatik, Pathos, elegische Stimmung, abgrundtiefe Melancholie kommen ebenso zu ihrem Recht und zu voller Geltung, wie heroische Triumphmusik oder dämonische Naturschilderung, wie Jagdfanfare und Choral, so dass erfahrbar wird, was das Epochenetikett "Romantik" eigentlich meint und dass es wenig mit "Gemütlichkeit" zu tun hat.
Der Orchesterklang ist dabei nicht einheitlich, da nur der überwiegende Teil vom Royal Scottish National Orchestra eingespielt wurde, die Sinfonien Nr. 2, 8 und 0 hingegen vom National Symphony Orchestra of Ireland und die Sechste vom New Zealand Symphony Orchestra. Das beste Bild geben dabei die Schotten ab: Insbesondere in der neunten und vierten Sinfonie präsentiert sich ein Orchester von hoher, den bekannten Spitzenensembles durchaus vergleichbarer Qualität und ungemeiner Transparenz. Um letztere übrigens war Günter Wand stets bei Bruckner nicht zufällig bemüht, denn fehlt sie, drohen die ausladenden Sätze zum unverdaulichen Klangbrei zu verkommen. Eine Gefahr, die Tintner gleichermaßen ohne Schwierigkeiten meistert.
Auch die Sinfonie Nr. 8 mit dem irischen Sinfonieorchester stellt sich als Highlight dar. Sicherlich eines der am schwersten zugänglichen Werke, erhält sie hier eine ungekannte Faszination und Strahlkraft, weil es gelingt, die Binnenspannnung der Mammut-Sätze und der Gesamtkonstruktion über die Aufführungsdauer von knapp 90 Minuten aufrecht zu erhalten.
Bemerkenswert scheint, dass jedes der drei Orchester unter dem gebürtigen Österreicher Tintner "deutscher" klingt, als die meisten deutschen Orchester unserer Tage, sofern man mit dieser Bezeichnung einen gewissen samtigen Streicherklang verbindet. Das ist nicht unbedingt jedermanns Sache, aber bei Bruckner - nun, da paßt es ganz einfach; manchmal darf und muß halt eben ohne Furcht auch einmal dick aufgetragen werden, zumindest, solange dadurch nichts "zugekleistert" wird.
Wenn dann noch die Blechbläser dank tadelloser Aufnahmetechnik das Wohnzimmer schon bei halb aufgedrehter Lautstärke zum Vibrieren bringen - was will man mehr?
Und jetzt, da BEIDE Maestri tot sind, mag es auch nicht als Sakrileg gelten, sie nebeneinander zu loben und beim Kauf durchaus die günstigere, keineswegs "billigere" Alternative zu erwägen - den Feuilletonisten zum Trotz und der eigenen Hörerfahrung zum Gewinn.
Repertoire: 4 Punkte
Klang: 4 Punkte
Interpretation: 5 Punkte
Edition: 4 Punkte
Gesamt: 17 Punkte
Sven Kerkhoff
Bezugsmöglichkeiten:
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