Rameau, J.-Ph. (Vashegyi, G.)
Dardanus (Version Mai 1744)
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Info |
Musikrichtung:
Barock Oper
VÖ: 05.02.2021
(Glossa / Note 1 / 3 CD / 2020 / Best. Nr. GCD 924010)
Gesamtspielzeit: 168:37
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RAMEAU-METAMORPHOSEN
Jean-Philippe Rameaus Opern sind ohne Zweifel oft ein Eldorado für Philologen, denn der Komponist überarbeitete seine Werke nur allzu gerne, ersetzte noch während einer Aufführungsserie Chöre, Tänze und Arien, überklebte, kürzte oder komponierte ganze Teile neu, wenn es ihm erforderlich erschien.
So hatte die erste Version seiner dritten Musiktragödie „Dardanus“ hatte 1739 nur mäßigen Erfolg. Rameaus herrliche und neuartige Musik, die allerdings als „schwierig“ (vom Publikum) und „anstrengend“ (von den schwerbeschäftigen Musikern) empfunden wurde, konnte über die Schwächen des Librettos von Charles-Antoine Leclerc de La Bruère nicht hinwegtäuschen: Götter, Monster und Zauberer mussten allzu oft eingreifen, um die Geschichte irgendwie voranzutreiben.
1744 dann ein zweiter Versuch: Im April des Jahres kam eine komplett überarbeiteter „Dardanus“ mit einer wesentlich veränderten Handlung auf die Bühne der königlichen Musikakademie. Neben kleineren Änderungen im Prolog und den ersten beiden Akten wurden die Akte drei bis fünf ganz neu komponiert: An die Stelle des Fantasy-Spektakels trat eine dramatisch schlüssigere Geschichte, bei dem die menschlichen Schicksale ins Zentrum rückten.
Rameau hatte offenbar keine Probleme, dafür einiges von der besten Musik zu opfern, die er bis dato komponiert hatte – um sie durch eine ganz andere, ebenfalls schöne Musik zu ersetzen. Wieder war die Aufnahme eher verhalten. Darum wurde die erste Fassung vom April 1744 einen Monat später erneut überarbeitet, die Akte drei und vier in Teilen für weitere Aufführungen im Mai nochmals neu vertextet und vertont, dazu kamen erhebliche Kürzungen im Prolog und im 5. Akt. Wieder wurden bemerkenswerte Stücke geopfert und umarrangiert. Zwar wurde die Oper wohlwollender aufgenommen und ein relativer Erfolg - doch erst bei einer dritten Wiederaufnahme 1760 begeisterte sie das Publikum, das nun reif war für Rameaus komplexen Stil, seine Dissonanzen, leidenschaftlichen Rezitative, instrumentalen und sängerischen Inventionen.
Wer es genau wissen will, kann jetzt die Metamorphosen des "Dardanus" anhand der verschiedenen Dardanus-Ausgaben studieren, die im Bärenreiter-Verlages in Zusammenarbeit mit dem Versailler Zentrum für Barockmusik erschienen sind. So hat jeder Interpret die Qual der quellenkritisch korrekten Wahl: Bunte barocke Zauberoper oder ernstes Rokoko-Drama, und wenn letzeres: Welche Fassung? Nachdem sich Marc Minkowskis bereits Ende der 1990er Jahre sehr überzeugend der Version von 1739 angenommen hatte – nahezu ungekürzt und fast ohne Beimischungen aus der Neufassung von 1744 – folgte 2012 Raphael Pynchon mit einer stark gekürzten Version des 1744er „Dardanus“, der die Fassungen vom April und Mai mischte, sich aber auch bei der 1739er-Ausgabe bediente.
Nun präsentiert György Vashegyi eine weitestgehend vollständige Einspielung der End-Version vom Mai 1744, aber ohne die Kürzungen Rameaus im Prolog und Finale. Also: möglichst viel Original-Musik im Rahmen einer vom Komponisten „autorisierten“ Version.
Die definitive Einspielung? Nun, nicht ganz, zumindest das ausdrucksvolle Duett „Frappez! frappez!“, bei dem Dardanus und seine Isphise bereit sind, füreinander zu sterben, fehlt in der Neueinspielung, weil Rameau es im Mai 1744 durch ein kurzes Rezitativ ersetzt hat. Das Duett gibt’s weiterhin nur bei Pynchon. Auch eine interessante Arie von Dardanus Gegenspieler Anténor im 3. Akt, „Le désespoir et la rage cruel“, muss ebenso wie der originelle Chor-Beginn weiterhin auf eine Wiedererweckung durch einen Interpreten warten, der sich die Fassung vom April 1744 einmal komplett vornimmt.
Davon abgesehen: So viel „Dardanus“ auf einmal war nie! Mit rund zweidreiviertel Stunden ist diese Fassung die bislang umfangreichste, eine große Rameau-Schatztruhe, die den Komponisten in einem wahren Schaffensrausch zeigt. Insbesondere das „lange“ Finale des 5. Aktes möchte zu gar keinem Ende kommen, Tänze, Chöre und Arien fügen sich zu einer bunten Suite – man versteht, warum der Komponist hier schließlich doch die Schere angesetzt hat. Allein: Das Ohr freut sich an diesem Feuerwerk von Einfällen, die in der majestätischen Chaconne gipfeln, die allen Fassungen gemein ist.
Aber wie klingt dieser neue „Dardanus“ nun? Die Akustik des Béla-Bartók-Saal im Budapester Müpa hüllt das virtuos-geschmeidig spielende „Orfeo Orchestra“ und die Stimmen in einen großzügigen Nachhall – ein wenig zu großzügig: Bei den oft flotten Tempi und dem eher lyrisch-organischen Ansatz Vashegyis läuft die einerseits feingliedrige, andererseits gestische und rhythmisch pointierte Instrumentalmusik Rameaus Gefahr, etwas zu weich und pastellig zu klingen. Kontraste, Nuancen und Farben bei den Tänzen und orchestralen Sinfonien werden nivelliert. Dazu kommt, dass das Orchester recht distanziert klingt, der Chor sich irgendwie davor befindet und ganz vorne die Solist*innen. Insgesamt ist das Klangbild etwas unausgewogen.
Die solistischen Leistungen sind es weniger: Judith van Wanroij, Chantal Santon Jeffery, Cyrille Dubois, Thomas Dolié, Tassis Christoyannis und Clément Debieuvre überzeugen sowohl einzeln wie auch im Zusammenspiel bei den gelegentlichen Duetten oder Terzetten. Judith van Wanroij schenkt der Isphise ein überzeugende Charakterisierung (obwohl Rameau ihr 1744 die sehr schöne, ausdrucksvolle Arie „O jour affreux!“ gestrichen hat).
Cyrille Dubois singt den Dardanus mit jugendlichem Feuer, auch wenn im koloraturseligen „Triomphe, Amour“ des 5. Aktes für die nötige Beweglichkeit und Höhe ein wenig die Reserven fehlen. Aber der Kenner wartet sowieso auf das berühmte „Lieux funestes“ aus der Gefängnisszene, mit der der 4. Akt eröffnet. Die düstere Fagottbegleitung und die seinerzeit sehr gewagten enharmonischen Verwechslungen kommen aufgrund des recht schnellen Tempos, das Vashegyi auch hier anschlägt, atmosphärisch nicht so recht zum Tragen – obwohl Dubois mit glühender Intensität dagegen hält. Chantal Santon Jeffery gibt eine ebenso sinnliche wie klangschöne Venus. Thomas Dolié gelingt der Spagat, in einer Doppelrolle den zornigen Teucer ebenso mit Leben zu erfüllen wie den geheimnisvollen Magier Ismenor. Auch die Rolle des Anténor hat in der Neufassung wenig Gelegenheit sich zu profilieren, doch ein kurzer Monolog und eine dramatische Sterbenszene genügen dem gut disponierten Tassis Christoyannis, sich als tragischer Antagonist des Dardnus ins Szene zu setzen.
Der Purcell Chor präsentiert Rameaus umfangreiche und komplexe Chorsätze mit ausdrucksvoller Verve und selbst in den rasanten Momenten differenziert. Aber auch hier hätte man sich, z. B. bei den Magier-Chören des 2. Akts, mehr spannungsvolles Verweilen, eine stärker deklamatorische Lesart gewünscht. Was an Vashegyis flüssigem Ansatz freilich überzeugt, ist die organische Gesamtwirkung: Wie er die einzelnen Nummern zumindest in den zentralen dramatischen Szenen zusammenhält, so dass aus der Vielheit eine große Einheit wird, das macht diesen „Dardanus“ trotz der Gesamtdauer zu einem durchgehend spannenden Hörerlebnis.
Man wünscht sich, dass dies nicht das letzte Wort in Sachen „Dardanus“ gewesen ist: Die Oper erweist sich in der Neueinspielung auch in der zweiten 1744er-Version als viel zu reich und reizvoll – anders, als z. B. Pynchons ausgedünnte Mischfassung es zunächst glauben machte. Es ist eine vollwertige Alternative zur Urversion. Eben ein echtes Eldorado für Rameau-Liebhaber und solche, die es werden möchten!
Georg Henkel
Trackliste |
1 | CD 1 Prolog und Akt 1 | 49:16 |
2 | CD 2 Akt 2 und 3 | 50:27 |
3 | CD 3 Akt 4 und 5 | 68:54 |
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Besetzung |
Judith van Wanroij, Chantal Santon Jeffery, Cyrille Dubois, Thomas Dolié, Tassis Christoyannis und Clément Debieuvre
Purcell Chor
Orfeo Orchester
György Vasehgyi, Leitung
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