Unwägbarkeiten aller Art: Das 2020er Symphonic-Klezmer-Konzert von Kolsimcha und der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz meistert strukturell schwierige Aufgaben




Info
Künstler: Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz & Kolsimcha: Symphonic Klezmer

Zeit: 05.02.2020

Ort: Chemnitz, Stadthalle, Großer Saal

Fotograf: Olivier Truan

Internet:
http://www.theater-chemnitz.de

Bezüglich der Symphonic-Klezmer-Konzerte von Kolsimcha und der Robert-Schumann-Philharmonie im Rahmen der Abonnementkonzerte der letztgenannten hat sich mittlerweile ein Dreijahres-Rhythmus herausgebildet, unterbrochen lediglich durch ein zusätzliches Kolsimcha-Konzert anno 2019 im Opernhaus, nach dem die Musiker gleich in Chemnitz geblieben seien und eine Dachkammer in der Stadthalle bezogen hätten, wie Pianist und Kolsimcha-Chefdenker Olivier Truan in seiner ersten Ansage flunkert. Wäre dem so und hätte die Dachkammer vielleicht auch noch so ausgesehen wie auf Carl Spitzwegs berühmtem Bild „Der arme Poet“, so wären die Ereignisse möglicherweise noch ganz anders begründbar gewesen: Truan wollte fürs 2020er Konzert eine große neue Komposition von einer halben Stunde Dauer schreiben, steckte allerdings in einem kreativen Loch, und als ihn die Muse Ende 2019 endlich zu küssen begann, war der Pianist durch einen Tennisarm außer Gefecht gesetzt. Ergo werden die Streicherstimmen des neuen Stückes, das an einem Mittwoch uraufgeführt wird, erst am Freitag zuvor fertig, die anderen Orchesterstimmen am Samstag und die Partitur schließlich am Sonntag. Was also einstudierungsseitig sowieso schon eine Herausforderung darstellt, potenziert sich am Dienstag noch, als Dirigent Ilya Ram ins Krankenhaus eingeliefert werden muß. Jakob Brenner, Kapellmeister an den Städtischen Theatern Chemnitz, springt ein, steht 23 Stunden vor Konzertbeginn erstmals vor dem Orchester, schaut in die Partitur, sagt „Sieht aus wie immer“ und beginnt mit der Arbeit, die nun am Mittwochabend in die Uraufführung der „Spanish Suite“ mündet.
Moment mal – „Spanish Suite“? Bisher pflegten Kolsimcha ja eher aschkenasische Traditionen, also diejenigen der ost- und südosteuropäischen Juden. Aber in der Suite geht es, auch durch die Satzbezeichnungen nochmals verdeutlicht, tatsächlich eher sephardisch zu: Nummern wie das im großen Dreiertakt schwingende „Vals“ sind im spanischen historischen Stilkonglomerat viel eher denkbar als in einem osteuropäischen. Bis dahin gibt es einen sehr bedächtigen Aufbau im Preludio, beginnend mit Truans Klavier zunächst solistisch, dann in wechselnden Interaktionen zunächst mit den Kolsimcha-Mitmusikern, danach schrittweise auch mit einzelnen Orchesterinstrumentengruppen. Als Überleitung zwischen den einzelnen Sätzen fungiert meist ein kurzer Solospot eines der Bandmusiker, und bei weiteren Aufführungen und der schrittweisen Ausfeilung wird der eine oder andere Übergang sicher noch ein wenig flüssiger gestaltet als in der Uraufführung dieses Abends. Aber viele Passagen wissen schon im ersten Wurf zu überzeugen, Brenner schafft es, auch die Tutti transparent zu gestalten, und wenn sich die Musiker zu monströsen Grooves finden, wippt man als Besucher automatisch irgendwie mit. Besonders das Finale gestaltet sich für die Band- wie für die Orchestermusiker ziemlich anspruchsvoll, sieht Komponist Truan hier doch sowohl ein zumeist ziemlich flottes Grundtempo als auch mannigfache Variationen desselben vor, und in diesen Dschungel einen gangbaren Pfad zu legen ist das Meisterstück des Dirigenten, der wie beschrieben dieses Stück erst weniger als einen Tag zuvor zum ersten Mal vor sich hatte. Daß er dann bisweilen sogar auf dem Pult hin und her tänzelt, spricht für ein enormes Selbstbewußtsein, aber er rechtfertigt das und alle beteiligten Musiker auch. Daumen hoch!
Der Terminus „alle beteiligten Musiker“ bedarf noch einer Präzisierung: Anno 2011 waren Kolsimcha, als sie das erste Mal mit der Robert-Schumann-Philharmonie spielten, noch zu fünft, anno 2017 aber zu sechst (das 2014er Konzert hat ohne den Rezensenten stattgefunden, ebenso das erwähnte zusätzliche 2019er). Auf dem 2020er Konzertprogramm prangt als Titelbild das Foto eines Quintetts, nämlich das auch oben abgebildete offizielle Bandfoto – es spielt aber wieder die Sechserbesetzung, also neben Truan noch Klarinettist Michael Heitzler, Flötist Avichai Ornoy, Posaunist Simon Girard, Kontrabassist Veit Hübner und Drummer Christoph Staudenmann. Nach der Uraufführung ist der erste Set aber noch längst nicht vorüber, wobei der „Rest“ des Konzertes das strukturelle Anforderungsniveau im Vergleich mit der Suite ein ganz klein wenig senkt, denn es gibt ausschließlich Stücke, die 2011 und/oder 2017 auch schon im Set gestanden haben, so dass der damals schon dabeigewesene Teil der Orchestermusiker bei der Erarbeitung nicht ganz bei Null beginnen mußte. Und man hört den Spaß, den alle Beteiligten hier auf der Bühne haben, überdeutlich durch, so dass er sich auch problemlos auf das Publikum im nahezu bis auf den letzten Platz gefüllten Großen Saal der Stadthalle überträgt. Klar, Steigerungsmöglichkeiten gibt es hier und da immer noch, etwa wenn in „Balkan Hora“ der Orchestertubist sehr angestrengt arbeiten muß, um seiner strukturgebenden Rolle gerecht zu werden – aber das in diesem hochgradig flinken Stück auch noch mit lockerer Leichtigkeit gebacken zu bekommen, wie es der Idealzustand wäre, würde einen Übermenschen am Instrument erfordern, und auch das Gehörte macht jede Menge Hörspaß. Nach etlichen gemeinsamen Konzerten hat übrigens auch die Soundfraktion mittlerweile den Dreh weitestgehend raus, wie man diese Musikerkonstellation, von der die Band verstärkt wird, die Orchestermusiker aber nicht, richtig abmischt. Einzig der Flötist steht hier und da ein wenig zu sehr im akustischen Abseits, aber auch das geht erstmal als Jammern auf hohem Niveau durch.
Ein guter Teil des restlichen Sets besteht wie erwartet aus Nummern des „Tewje“-Balletts, die anno 2017 den Set dominiert hatten, und dazu treten noch einige Klassiker: das genannte „Balkan Hora“, das melancholisch angehauchte Doppel aus „Intermezzo Nr. 2“ und „Jerusalem“ mit schönem Solo von Konzertmeisterin Heidrun Sandmann in erstgenanntem, der Setcloser „Autostrada“, in dem der Klarinettist die Versuche, einen kaputten Lada wieder zum Anspringen zu bewegen, diesmal besonders lautmalerisch ausgestaltet und dadurch spontane Heiterkeit im Publikum erzeugt, sowie im Zugabenblock noch das ausnahmsweise nicht von Truan, sondern von Heitzler geschriebene „Crazy Freilach“ und der Rausschmeißer „Wedding Band“, letzterer von schwerem Groove bis zu trunkenem Inferno das komplette Spektrum abdeckend, hier und da das Auditorium zum Mitklatschen animierend und in einem ultraspeedigen Finale endend. Wäre der Funke nicht schon längst übergesprungen, spätestens hier hätte er es tun müssen: Die Begeisterung unter den Zuschauern erreicht ähnliche Ausmaße wie 2011 und 2017, obwohl Truan augenzwinkernd vor dem Zugabenblock anmerkt, dass es bei ihren Konzerten üblich sei, dass das Publikum rhythmisch klatschen müsse, wenn es Zugaben wolle, was in Chemnitz im bisherigen Set noch nicht der Fall gewesen sei, aber von den Anwesenden natürlich prompt in die Tat umgesetzt wird, wonach „Games“ aus „Tewje“ und die beiden erwähnte Stücke hinzugegeben werden. Feines Konzert – auch wenn es vielleicht nicht nur dem Rezensenten so gegangen sein wird, dass er sich nicht ganz hundertprozentig konzentrieren kann, sondern ab und an darüber nachdenkt, dass wenige Stunden zuvor im Thüringer Landtag die AfD-Stimmen eine Ministerpräsidentenwahl entschieden haben und dass, wenn das Schule machen sollte, die zu erhoffenden nächsten Konzerte dieser Kombination 2023 oder spätestens 2026 wohl nicht mehr möglich sein werden, weil Rrreichskanzlerrr Höcke und sein Propagandaminister da etwas dagegen haben dürften. Arbeiten wir dafür, dass es nicht so weit kommt.


Setlist:
Spanish Suite: Preludio/Puerta Abierta/La Corta/Vals/Interludio/El Torro/Duende/Final
Balkan Hora
Pas de deux aus „Tewje“
Finale 1. Akt aus „Tewje“
--
Dance Suite aus „Tewje“
Dance Suite Encore aus „Tewje“
Intermezzo Nr. 2
Jerusalem
Autostrada
--
Crazy Freilach
Games aus „Tewje“
Wedding Band


Roland Ludwig



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