Die auseinanderdriftenden Kinder der 1890er: Das Leipziger Universitätsorchester spielt Gershwin, Korngold und Prokofjew
Alle drei Komponisten des regulären Programms des Wintersemesterkonzertes des Leipziger Universitätsorchesters sind in den 1890er Jahren geboren worden, und trotzdem hätten ihre Lebenswege wie ihre Musik nicht unterschiedlicher ausfallen können. Letztgeborener, aber Frühestverstorbener ist George Gershwin, von dem die Kubanische Ouvertüre den Abend eröffnet, ein naturgemäß besonders perkussiv wirkungsvolles Stück, dessen flotte Einleitung noch etwas zu diffus daherkommt, bevor der neue Dirigent Ilya Ram im Hauptthema die angestrebte Lockerheit erreicht hat. Der rumbageprägte Rhythmus kommt prinzipiell geordnet daher, aber nicht zu sehr – ein Eindruck, der sich möglicherweise durch den Sitzplatz des Rezensenten im Parkett ganz links und relativ weit unten ergibt, wo der Klang der Perkussionsinstrumente erstmal durch die Wand von Kontrabässen hindurchmuß und daher wenig prägende Wirkung entfaltet. Dafür entschädigt ein wunderbares Cellosolo über einem Paukenteppich, und generell gelingt der ruhige Zwischenteil recht entrückt, wenn man sich erstmal an die wiederum vom Sitzplatz des Rezensenten aus beurteilt recht dominant agierenden ersten Violinen gewöhnt hat. Im Übergang zum schnellen Schußteil entfaltet Ram schon einigen Bombast, und besagter Schlußteil gerät enorm groovig – manchmal besitzt es eben auch Vorteile, wenn man viel Kontrabaß im Ohr hat. Ein klein wenig mehr Feuer hätte es im Finale aber trotzdem noch sein dürfen. Erich Wolfgang Korngolds Violinkonzert D-Dur hat das MDR-Sinfonieorchester ein Vierteljahr zuvor an gleicher Stelle gespielt – die Parallele ist vermutlich kein Zufall, schließlich ist selbiges das „Patenorchester“ des Leipziger Universitätsorchesters, und diverse seiner Mitglieder helfen den Studenten bei der Einstudierung ihrer Parts, was in diesem Falle also gleich doppelten Nutzen bringt. Solistin ist diesmal Sanghee Ji (Foto), und die hat im Moderato nobile überschriebenen ersten Satz zunächst damit zu kämpfen, dass die ersten Violinen ein wenig zu trocken agieren und die Lieblichkeit der Sololinie damit konterkarieren. Das Hauptthema nimmt Ram ziemlich breit, und sogleich paßt die Stimmung besser. Zudem bringen der junge Dirigent und die jungen Musiker das Kunststück fertig, einerseits die Kleinteiligkeit der Anlage durchaus zu betonen, aber andererseits die titelgebende Noblesse nicht zu vergessen, obwohl die Solistin zumeist auch noch einen ziemlich scharfen Tonfall pflegt, in der Kadenz aber dann doch recht seelenstreichlerisch agiert. Trotz einiger hollywoodkompatibler Elemente (Korngold hat während seiner Exilzeit dort als Filmmusikkomponist gearbeitet, das Konzert verarbeitet Themen aus diversen seiner Filme, und im Programmheft steht der klassische Satz „Für uns hört sich das heute nach Hollywood an, weil Hollywood nach Korngold klingt“) gestaltet Ram den langen Finalpart des Satzes trotz einiger größerer Tutti-Einwürfe eher ruhig fließend, so dass der kurz-knackige Schluß entsprechend zur Wirkung kommt. Das Ruhig-Fließende ist auch für den zweiten Satz Romance: Andante bestimmend – Korngold folgt also nicht der tradierten Form des Solokonzerts mit einem langsamen Binnen- und zwei schnellen Außensätzen und reziprokiert diese auch nicht, sondern setzt die beiden langsamen Sätze hintereinander. Hier gestaltet der israelische Dirigent mit viel Behutsamkeit und intensivem Kontakt mit der koreanischen Solistin, die Stimmung ist einfach nur schön, einige kleine Wackler stören nicht, die eine Dramatisierungsandeutung ist gut in den vorherrschenden Flow eingebunden, und nur der Übergang ins Schlußtableau holpert etwas zu sehr. Im Allegro assai vivace ändert sich der Gesamtcharakter dann markant. Der Schlußsatz hängt nahezu attacca an, macht gleich Tempo, das Orchester bekommt einen schön lockeren flotten Groove gebacken, und der bleibt auch in den verträumten Passagen unterschwellig präsent. Feistes Kontrabaß-Gesäge übt auch hier gelegentlich dominante Wirkungen aus, „Star Wars“-kompatibler Bombast kommt plötzlich aus dem Weltraum geschossen (wir erinnern uns abermals an die Hollywood-Karriere des Komponisten), aber Ram hält das Energielevel auf mäßigem Niveau und steigert es auch in den diversen Wendungen hin zum Satzschluß nicht, was freilich nicht entscheidend stört. Die in klassisches Schwarz-Weiß gehüllte Solistin erhält viel Applaus, der aber nach dem zweiten Vorhang quasi sofort abbricht, so dass Konzertmeisterin (und Autorin des oben zitierten Hollywood-Satzes) Leonie Pahlke, die sich eigentlich wieder hingesetzt hatte, um offenbar abzuwarten, wie sich die Lage entwickelt, die Versammlung auf der Bühne beendet und eine eventuell geplante Zugabe somit nicht erklingt. Nach der Pause erklingt die 7. Sinfonie cis-Moll von Sergej Prokofjew, das letzte volendete größere Werk des Komponisten, bevor er am gleichen Tag wie der sowjetische Diktator Jossif Wissarionowitsch Stalin starb, der Prokofjew mal mehr, mal weniger deutlich auf tonale „Parteilinie“ zu bringen versucht hatte, und so ist diese vom Rundfunk beauftragte Sinfonie ein eher wenig experimentelles Werk geworden, das freilich trotzdem keineswegs reizlos ausfällt und eine nähere Beschäftigung allemal lohnt, wo sich dann verschiedene mal mehr, mal weniger versteckte Abgründe auftun, die die offizielle Apostrophierung als kinderkompatibles Werk geschickt unterlaufen. Im eröffnenden Moderato dauert es nicht lange bis zum ersten Abgrund, der hier eher eine tückische Moorfläche darstellt: Ram holt eine gekonnte Fahlheit aus den Streichern, verzichtet trotz finster grollender Tuba aber auf gesteigerte Düsternis – und das Seitenthema wirkt auch nicht anders. So schleppt man sich dahin, bis mit dem Glockenspielthema der schrägste Gedanke des ganzen Werkes auftaucht und den doppelten Boden offenbart, für den das oftmals abgrundtief hämmernde Klavier eine der Basislagen bereitstellt und ähnlich strukturgebend agiert wie das Glockenspiel. Der Satzschluß gelingt dann klangschön und entspannt, mit vielleicht einem Tick zuviel Herbheit im Schlußton. Das Allegretto an zweiter Satzposition legt nach zurückhaltendem Auftakt eine gewisse Dynamik an den Tag, wobei die strukturimmanenten Beiträge hier abermals aus den tiefen Instrumenten kommen, das Fagott als markanten neuen Gesellen in diese Funktion einführend. Die Musik wogt hin und her, aber wie gewünscht läßt Ram den gefesselten Prometheus nie von den Ketten, agiert weder flott noch laut, trotz einiger Ansätze bereits vor dem Satzschluß, der dann einiges an Energie freiläßt, aber immer noch stets kontrolliert bleibt. Das Andante espressivo an dritter Satzposition hebt mit recht lieblichen Celloklängen an, und nicht mal das kurze Gesäge der Kontrabässe stört die Stimmung nachhaltig. Das ändert sich freilich: Die Pizzikati öffnen den nächsten Abgrund, aber erneut bleibt nichts übrig, selbst das Harfengeflirre nicht. Ram nimmt den Satz langsam, aber nur dann schleppend, wenn es wirklich nötig ist, etwa gegen Ende hin, nachdem ein unironisch wirklich schönes Tutti Geschichte ist. Der abschließende Vivace-Satz hebt mit einem folkloristisch anmutenden Thema an, das in halsbrecherischer Geschwindigkeit hin- und herfliegt, was mit einem Laienorchester (im Leipziger Universitätsorchester spielen bekanntlich Studenten, die irgendwelche Fächer studieren, aber nicht das Instrument, das sie spielen) schnell ins Beinkleid gehen kann. Aber die Spielsicherheit des Orchesters beeindruckt hier nachhaltig – vielleicht sind die Studenten auch Profiteure des Umbaues der Bühne im Großen Saal des Gewandhauses, wo die neue Bühnenwandverkleidung für eine bessere Hörbarkeit untereinander sorgen soll und das möglicherweise auch tut. Den Zirkusmarsch nimmt Ram zwar ironisch, aber so unzirkushaft wie nur denkbar, und es dauert nicht lange, bis sich die folkloristische Hochgeschwindigkeit wieder breitmacht. Aber auch sie überdauert nicht, statt dessen kommen das Glockenspiel und das Seitenthema aus Satz 1 zurück, letzteres von Ram sehr groß gewünscht und vom Orchester auch so gespielt. Alle Steigerungsansätze sterben planmäßig, das Tempo sinkt schrittweise, und irgendwann ist mit dem irrlichternden Xylophon das Ende erreicht – die Spannung steht, keiner im ausverkauften Saal hustet, und erst nach einer langen Pause bricht frenetischer Applaus los. Üblicherweise serviert das Leipziger Universitätsorchester am Ende seiner Semesterkonzerte eine Zugabe – das passiert auch diesmal, allerdings in einer Art und Weise, die es zumindest in den vom Rezensenten erlebten Konzerten (und das sind die allermeisten des letzten Jahrzehnts) nur ein einziges Mal in ähnlicher Form gab, nämlich im Sommersemesterkonzert 2017: Nach einem kurzen instrumentalen Vorspiel verwandelt sich das Orchester in einen Chor und singt den Abendsegen aus Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ nahezu a cappella, begleitet nur von einigen Percussions, bevor es noch ein instrumentales Nachspiel gibt. Das Ganze passiert ohne die sonst gern eingesetzten humoristischen Einlagen und funktioniert auch in dieser Form prächtig, so dass das Publikum zufrieden von dannen zieht. Roland Ludwig |
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