Musik an sich


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Bach, J. S. (Seiler, M.)

Sonaten für Violine solo


Info
Musikrichtung: Barock Violine

VÖ: 18.03.2016

(Berlin Classics / Edel / CD DDD / 2015 / Best. Nr. 0300721BC)

Gesamtspielzeit: 68:09



GEISTIG-KÖRPERLICHE REISE ZUM GIPFEL

Viele Wege führen zu den Höhen von J. S. Bachs reifen Gipfelwerken, unter denen die beiden großen Zyklen für Soloinstrumente - Violine und Cello - noch einmal einen besonderen Rang einnehmen. Die drei Sonaten und drei Partiten für unbegleitete Violine bedeuten wahrscheinlich für alle GeigerInnen so etwas wie die Essenz dessen, was für ihr Instrument komponiert wurde. Entsprechend groß ist die Zahl der Referenzen, die sich den spieltechnischen und interpretatorischen Herausforderungen gestellt und ihren Weg durch Bachs geigerisches Hochgebirge gefunden haben.

Nun hat auch die auf die historische Aufführungspraxis spezialisierte deutschjapanische Geigerin Midori Seiler ihre ganz persönliche Auseinandersetzung mit Bachs Zyklus abgeschlossen. Nachdem 2011 die Partiten erschienen sind, folgen nun die Sonaten. Legt man die Aufnahmejahre zugrunde, hat sich Midori Seiler rund sechs Jahre Zeit gelassen um ihre Reise durch Bachs Universum zu vollenden. Die Qualität ihrer Interpretation gibt ihr gegenüber einem oft schnelllebigen und auf Gesamteinspielungen im Dutzendpack ausgerichteten Klassikbetrieb Recht. Wie schon bei den Partiten besticht auch bei den viersätzigen Sonaten die nahezu vibratolose, intonatorisch makellose Tongebung, die einerseits unheimlich und ergreifend nackt wirken kann und andereseits voller Möglichkeiten steckt: Die grundsätzliche Klarheit eröffnet Spielräume für die minuziöse farbliche Gestaltung und subjektive expressive Aufladung der Musik jenseits historisierender Strenge und romantischer Verklärung.
Jeder Ton, jeder Klang wird von Midori Seiler individuell geformt, wie eine Plastik en minature; das körperliche "Material", denen den Klang entlockt wird (Darmsaiten und Holzkorpus), bleibt dabei immer spürbar, als Vergrößerung oder Projektion des Körpers der Interpretin. Das verleiht den barocken Gesten eine große Individualität, Prägnanz und physische Energie, die sich in den schnellen Sätzen - z. B. beim Preludio der Partita Nr. 3 - auch in einer virtuosen Kaskade entladen darf.

Rhetorisch überfrachtet wirkt dabei nichts: Die große Struktur, der große Bogen bleibt in Seilers Interpretation immer erkennbar und sorgt dafür, dass man als Hörer geradezu sogartig in Bachs Musik hineingezogen wird. Bei insgesamt nicht zu schnellen (aber eben nicht breiten) Tempi in den langsamen Sätzen der Sonaten erzeugt die Künstlerin eine manchmal fast schon schmerzhafte Spannung, die insbesondere die Fugen zu einer Tour de Force werden lässt - kaum zu glauben, dass Musik für ein Soloinstrument eine solche Dichte, eine solche fast schon orchestrale Gravität entwickeln kann. Darüber hinaus bestechen die Eröffnungssätze sowohl der Partiten wie der Sonaten durch die Kunst, jeden Ton gleichsam aus dem vorausgehenden wie durch Zauberhand hervorgehen zu lassen. Alles erscheint absolut notwendig, nichts überflüssig oder wie bloßer Zierrat.

Zugleich ist bei dieser Einspielung alles auch in großes Spiel. Aufgrund des sehr stimmigen, sozusagen stets "sprechenden" Rubatos, gibt es eine wunderbare, nachgerade improvisatorische Freiheit. Wenig wirkt da ertüffelt, vieles dagegen wie ganz aus dem Moment geboren. Musik als Meditation. Klanglandschaften. Oder die Musik hebt ab, insbesondere in den Partiten, beginnt zu gleiten, zu schweben, sich wie ein großes Lebenwesen organisch wachsend zu entwickeln und die schönsten Blüten hervorzutreiben.
Durch die Trennung der Sonaten von den Partiten wird zudem deutlich, dass erstere mehr zu einem Art quasi-sinfonischen Charakterstück tendieren, während die Partiten bei aller Komplexität mehr im Geiste des Tanzes komponiert sind, die den Hörenden nicht still da sitzen, sondern wirklich mitgehen lassen. Bachs Musik erlebt man hier wirklich geistig-körperlich.

Midori Seiler ist ein großer interpretatorischer Wurf gelungen, der schließlich auch klangtechnisch vollkommen überzeugt: so vollreif und zugleich herb, so unmittelbar und resonanzreich klingt ihre Guarnieri-Geige hier.



Georg Henkel



Besetzung

Midori Seiler: Barockgeige


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