Musik an sich


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Stockhausen, K. (Pasveer)

MICHAELION (4. Szene vom MITTWOCH aus LICHT)


Info
Musikrichtung: Neue Musik Oper

VÖ: 01.1.2013

(Stockhausenverlag / Stockhausenverlag / CD / DDD / 2012 / Best. Nr. CD 54)

Gesamtspielzeit: 59:30



HERZSTÜCK

Mit der jüngst erschienenen Aufnahme von MICHAELION, der vierten und letzen Szene von Karlheinz Stockhausens Oper MITTWOCH aus LICHT, hat das komponisteneigene Label eine bedeutende diskographische Lücke geschlossen. Anders als bei den anderen LICHT-Szenen war nämlich im Rahmen der Uraufführung von MICHAELION, die 1998 im Prinzregententheater in München stattfand, keine technisch rundum befriedigende Aufnahme entstanden.
Eine Gelegenheit dafür ergab sich 2012 bei der Gesamtaufführung der Oper in Birmingham. Noch vor der Premiere nahm die musikalische Leiterin Kathinka Pasveer mit ihrem Team die hochkomplexe Musik auf 50 Spuren auf, schnitt und mischte sie dann in den folgenden drei Monaten ab und produzierte aus dem Material eine überragend plastische und durchsichtige Version.

MICHAELION ist wie so viele Szenen in Stockhausens LICHT-Zyklus eine vielschichtige Kammermusik. Zu einem großen Solisten-Chor treten ein Instrumentalquartett aus Trompete, Flöte, Bassetthorn und Posaune, ein Synthesizer sowie ein Bassist mit Kurzwellenempfänger. Umfangen wird dieses Ensemble von einer mehrkanaligen elektronischen Musik.
Handlung und Libretto sind originaler Stockhausen: ein aus der Musik herauswachsender kosmisch-fourioser Scherz voller anekdotischer Einlagen, skurriler Wortspiele und unmöglicher musikalischer Einfälle (z. B. gurgelnd singen!), die sich allerdings klanglich ganz selbstverständlich zusammenfügen und Stockhausens Vision einer grenzenlosen „All-Musik“ verwirklichen.
MICHAELION vereinigt dazu die musikalischen Elemente der vorrausgehenden MITTWOCH-Szenen: Elektronik, Chor, Instrumente, großes Ensemble oder Kammermusik. Und MITTWOCH, in LICHT der Tag der kosmischen Solidarität und Zusammenarbeit, steht im Zentrum der sieben Opern. So ist die 4. Szene in mancher Hinsicht das Herzstück des gesamten Zyklus. Nur hier sind die zentralen Kräfte, die sich in den Gestalten von Michael, Eva und Luzifer manifestieren, bei aller Verschiedenheit in perfekter Balance. Am Ende von MICHAELION erklingt die dreischichtige musikalische Superformel, auf der alle sieben LICHT-Opern beruhen, in mehrfacher Rotation um das Publikum herum, bevor die SängerInnen immer weiter singend durch die Saaltüren hinaustreten und sich in der Ferne verlieren, bis am Ende nur noch die sphärische elektronische Musik zu hören ist.
Der Komponist stellte sich eine Art kosmisches Parlament vor, in dem Abgesandte aus allen Teilen des Universums zusammenkommen, um sich von einem Operator Kurzwellen-Signale aus dem Jenseits übersetzen zu lassen. SängerInnen und InstrumentalistInnen treten zunächst in immer neuen Formationen auf und ab, alles ist in ständiger, fluktuierender Bewegung. Das kosmische Parlament summt, singt, spricht, lacht und klatscht in allen möglichen Tonlagen und Klangfarben … Der Operator schält sich übrigens erst nach einiger Zeit aus dem Körper eines singenden, tanzenden und Stierkampf-spielenden Kamels heraus, das nebenbei noch einige bunte Weltkugeln aus seinem Allerwertesten fallen lässt. Später formiert sich aus drei Instrumenten ein sogenanntes Bassetsu-Trio, das den Operator umtanzt; dazu singen die Tenöre leise eine Litanei, während der Operator die Kurzwellen-Klänge in verschiedene Sprachen und Dialekte verwandelt.
Spätestens mit dem finalen Raumsextett, in dem der universale Frieden, die Solidarität und die Einigkeit im Geiste der Musik besungen werden, zeigt sich der tiefere Sinn, der sich hinter der närrischen Maske und den esoterisch anmutenden Ingredienzien verbirgt: im Spiel der Vielheit bildet sich eine allumfassende Einheit ab, die alles einschließt und die Gegensätze miteinander versöhnt. Dass Stockhausens Gott offenkundig viel Humor hat, ist dabei nicht die unwichtigste Botschaft.
Es liegt wohl nicht ganz fern, den Operator mit dem Komponisten zu identifizieren. Stockhausen verstand sich selbst als musikalischer Vermittler zwischen Himmel und Erde. So gewährt er mit dem MICHAELION auch einen Blick in sein ganz persönliches kreatives Universum: Hier öffnet sich eine große kosmische Musicbox, die bis zum Überklingen voll mit Musik ist. Ohne die szenische Dimension kann man das Werk ganz abstrakt hören, als eine musikalische Weltraumfahrt durch immer neue Klangsphären und tönende Konstellationen.

Dass man sich in dieser Fülle nicht verliert, dafür hat Kathinka Pasveer als musikalische und technische Leiterin gesorgt. Sie hat die vielen Ebenen so ausgesteuert, dass sich gleichsam eine Idealperspektive ergibt. Dem Hörer hilft die diskrete Betonung von bestimmten Ereignissen bei der Orientierung. Darüber hinaus kann man immer wieder neue Details und erstaunliche Klangtiefen entdecken. So fügt sich alles ganz im Sinne des Komponisten und dem Geist der Szene.
Hervorzuheben sind die Leistungen der Mitwirkenden: Die überaus polyglotten und selbst bei den merkwürdigsten Partituranforderungen musikalischen London-Voices wechseln als kosmische Parlamentarier souverän zwischen umfangreichen Soloeinlagen und kollektiven Aktionen. Der Bass Michael Leibundgut als Luzikamel bzw. Operator hat hörbar Vergnügen an seinen Kurzwellentransformationen (wobei er im Ganzen zurückhaltender agiert als der Stimmkünstler Michael Vetter, der die Operator-Partie bei der Uraufführung gesungen hat). Herausragend sind schließlich die Leistungen der ebenso agilen wie virtuosen Solisten Marco Blaauw (Trompete), Fie Schouten (Bassetthorn), Chloé l'Abbé (Flöte), Stephen Menotti (Posaune) und Antonio Pérez Abellán (Synthesizer).
Ein umfangreiches deutsch-englisches Booklet mit allen Texten und vielen Fotos von der Aufführung in Birmingham rundet diese gelungene Produktion ab.



Georg Henkel



Besetzung

Michael Leibundgut: Bass

London Voices

Marco Blaauw: Trompete
Chloé l'Abbé: Flöte
Fie Schouten: Bassetthorn
Stephen Menotti: Posaune

Antonio Pérez Abellán: Synthesizer

Kathinka Pasveer: Leitung


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