Haydn, J. (Higginbottom)
Nelson-Messe
IN DER NOT
Es bleibt ein Rätsel: Was meint der Titel von Haydns „Missa in angustiis“ (Messe in Bedrängnis)? Die Bedrohung Europas durch Napoleons Feldzüge? Krankheit und Alter, die Haydn zur Entstehungszeit des Werkes (1798) zunehmend zu schaffen machten? Oder doch nur den Umstand, dass der neue Fürst von Esterházy mal eben kurzerhand sämtliche Holzbläser der Hofkapelle entlassen und damit die musikalischen Möglichkeiten beträchtlich eingeschränkt hatte? Nun, die beste Geschichte setzt sich eben durch und so wird bis heute kolportiert, Haydn habe bei der Komposition des Benedictus die Nachricht vom Sieg Admiral Nelsons über die napoleonischen Truppen in der Schlacht von Abukir erhalten und dies sogleich musikalisch umgesetzt. Wenngleich die zeitlichen Abläufe diese Anekdote unwahrscheinlich machen, so hat sie doch den populären Beinamen der Messe gestiftet: „Nelson-Messe“. Fest steht, dass diese unter den späten Messvertonungen Haydns eine herausragende Stellung einnimmt, ist sie doch die dramatischste, düsterste von ihnen und wartet mit weiteren Besonderheiten auf: Infolge der Maßnahmen des neuen Fürsten beschränkt sich das Orchester auf Streicher und Orgel, wobei letztere die üblicherweise eher den Holzbläsern zufallenden Teile übernimmt. Vor allem aber ist das Solistenquartett höchst ungleich behandelt, denn die Sopranpartie trägt klar opern-, um nicht zu sagen, divenhafte Züge, ist anspruchsvoll, höchst emotional und koloraturlastig.
Entsprechend mutig ist die Entscheidung des Dirigenten Edward Higginbottom, sie einem Knabensopran anzuvertrauen. Und auch wenn es sich bei dem Sänger um den exzeptionell begabten Jonty Ward handelt, geht das Experiment letztlich nicht auf. Zwar ist seine Intonation klar und die Stimme für einen Knaben erstaunlich volumenreich. Um ihm einen akuraten Vortrag zu ermöglichen, muss Higginbottom aber an vielen Stellen das Tempo zurückschrauben. Diese Fahrt mit angezogener Handbremse tut dem dramatischen Werk nicht gut und lässt die Interpretation hinter die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis zurückfallen. Emotional gefangenzunehmen vermag die Einspielung daher nicht. Weder erreicht sie die opernhafte Dramatik früherer Interpretationen (Marriner, EMI 1985), noch die explosive Schlagkraft und Vitalität historisch informierter Einspielungen (Weil, Sony 1997, mittlerweile in Lizenz bei Brilliant Classics; Pinnock, DGG 1986). Daran vermag auch der programmatisch kluge Einschub der Motette „Insanae et vanae curae“ nichts zu ändern. Zudem wird das engagierte Musizieren von Chor und Orchester durch die wenig erfreuliche Aufnahmequalität und eine unzureichende Staffelung getrübt, die den Gesamtklang im Kirchenraum verschwimmen lässt.
Sven Kerkhoff
Besetzung |
Jonty Ward: Sopran
Hugh Cutting: Alt
Nick Pritchard: Tenor
Tom Edwards: Bass
Choir of New College Oxford
New Century Baroque
Edward Higginbottom: Ltg
|
|
|
|