Musik an sich


Reviews
Andre, M. (Müller-Goldboom)

...22,13... A Music-Theatrical Passion


Info
Musikrichtung: Neue Musik Ensemble

VÖ: 20.01.2012

(Neos / Note 1 / 2 SACD hybrid / 2011 / Best. Nr. NEOS 11067-68)

Gesamtspielzeit: 86:57



STAUBTROCKEN

Diese Musik, so der Komponist Mark Andre (Jg. 1964), sei ein „Near-Death Experiment“. Treffender lässt sich der Eindruck, den seine rund 90minütige „Musiktheater-Passion“ ...22,13... A Music-Theatrical Passion beim Hörer hinterlässt, kaum auf den Punkt bringen. Habakuk Traber spricht im Beiheft von einem „Schatten- und Totenreich der Töne“.
In der Tat: Andre, der auch beim Avantgarde-Übervater Helmut Lachenmannn studierte, treibt dessen negative Ästhetik eines „Angebots durch Verweigerung“ in diesem Werk auf die Spitze. Es gibt ein mit tiefen Bläsern und Streichern besetztes Kammerorchester (work in progress –Berlin), dessen feinstens ausdifferenzierte, geräuschhafte Hervorbringungen außerdem liveelektronisch moduliert und verfremdet werden (Software: Experimentalstudio des SWR). Man vernimmt überwiegend Klangschlacken, deren weitgehend amorphe Grau-in-Grau Texturen durch Klavier- und Harfeninterventionen einige lichte Reflexe und Konturen erhalten. Diese Musik ist oft an Grenze zur Hörbarkeit angesiedelt, so dass gelegentliche Ausbrüche, vor allem in Form kurzer, aggressiver Schlagzeugattacken, um so intensiver herausstechen. Die sieben hohen Singstimmen (Vocalconsort Berlin) hellen den Klang zwar auf, bleiben aber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit ihren körperlosen Hauch- und Flüsterstimmen ebenfalls in der Sphäre des Fahlen, sozusagen Überbelichteten.

Eine ausgeglühte Musikwelt hat hier Gestalt angenommen. Ihr Thema ist die Johannesapokalypse, genauer der titelgebende Vers 22,13: „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ Damit wird jener Moment markiert, in der die alte, in der Zeit sich bewegende Welt durch eine neue, zeitlose und ewige Schöpfung abgelöst wird. Daraus hat Andre drei Untertitel für die drei Teile seines Musiktheaters destilliert: ...das O..., ...der Letzte..., ...das Ende.... „Die Titel thematisieren in metaphysischen Kategorien, worauf wir uns hinbewegen, nicht die Ursprünge, aus denen wir stammen“, so Traber.
Im Apokalypse-Jahr 2012 nimmt sich die musikalische Welt von Andres „Oper“ freilich wie ein Negativ all jener knallbunten und esoterischen Untergangsvisionen, mit denen uns Hollywood heimsucht (wobei Andres Idee, Ingmar Bergmanns Film „Das Siebente Siegel“ und die legendären Schachpartien von Kasparow gegen den IBM-Computer Deep Blue für die Semantik und Zeitstruktur des ersten Teils kurzzuschließen, sehr gesucht und esoterisch anmutet).
Dem Plakativen und Offensichtlichen des popkulturellen und religiösen Mainstreams begegnet Andre mit einer radikalen Zurücknahme und Reduktion. Trotzdem bleibt das Werk all jenen Klanganmutungen verhaftet, die man gemeinhin mit der Apokalypse verbindet, selbst die Posaunen des Jüngsten Gerichts vermag man hier und da zu vernehmen. Dass ‚Apokalypse‘ das Offenbarwerden einer grundlegenden göttlichen Wahrheit bedeutet, die die Kraft hat, den Krisen, Untergang und Tod zu überwinden und in eine neue Schöpfung hineinzuführen – das kann man im letzten Teil allenfalls erahnen: Hier klärt sich die musikalische Atmosphäre langsam auf, die Aktionen beruhigen sich bis zum Stillstand. So tastet sich der Komponist an die Randzonen der Ewigkeit heran. Richtig glauben mag man es allerdings nicht, dazu bleibt die Musik eben doch zu sehr ein disseitiges „Near-Death-Experiment“, die für das ganz Andere und Neue keine neuen Klänge findet. (Man höre sich im Anschluss einmal Olivier Messiaen Farben der himmlischen Stadt an: dieser Komponist kreierte für die surrealen Bilder der Johannesoffenbarung entsprechende Klänge, die trotz aller Pracht niemals platt affirmativ sind.)
Auch deshalb – und trotz der makellosen Mehrkanal-Produktion – wirkt die Musik im wahrsten Sinne kaum mehr als staubtrocken, dafür aber Sinne in einem in die Jahre gekommenen Avantgarde-ästhetischen Sinne sicherlich 'politisch korrekt'.



Georg Henkel



Trackliste
SACD 1
01 I. ...das O... 19:52
02 II. ...der Letzte... 37:34

SACD 2
01 ...das Ende... 29:31
Besetzung

Vocalconsort Berlin
work in progress – Berlin

Experimentalstudio des SWR

Gerhardt Müller-Goldboom: Leitung




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