Musik an sich


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Bei Händels Agrippina fallen sich Zynismus und das Happy End in die Arme




Info
Künstler: Georg Friedrich Händel – Agrippina

Zeit: 07.02.2010

Ort: Staatsoper, Berlin

Besucher: 1396

Veranstalter: Staatsoper, Berlin

Fotograf: Monike Rittershaus

Internet:
http://www.staatsoper-berlin.de

300 Jahre nach der Uraufführung am 26. Dezember 1709 in Venedig stand Händels Agrippina auf dem Spielplan der Staatsoper unter den Linden – ein seltenes Vergnügen. Das Programmheft nennt nur zwei Inszenierung im 20. Jahrhundert: 1943 in Halle und 1963 im englischen Abingdon. Auch für die aktuelle Inszenierung von Rene Jacobs und Vincent Boussard sind nur vier Vorstellungen plus Premiere angesetzt worden. Die Karten waren bereits im Vorverkauf komplett vergriffen.

Die Handlung ist ein Verwirrspiel um Intrigen, Macht und Liebe. Agrippina, die dritte Gemahlin des römischen Kaisers Claudio, will Nero(ne), ihren Sohn aus erster Ehe, als Nachfolger von Claudio installieren, während dieser den edlen Ottone vorsieht, der ihn heldenhaft vor dem Tod gerettet hat. Dieser hingegen schmachtet vor allem nach der Liebe der temperamentvollen jungen Poppea (Bild rechts) – genau wie Nerone und Claudio.
Der weiß gekleidete Ottone und die im schwarzen Kostüm mit roten Applikationen auftretende Agrippina werden zu den moralischen Antipoden; er Poppea in reiner Liebe verfallen; sie vor keiner Lüge keinem Betrug und auch keinem Mordauftrag zurückscheuend, um ihrem Ziel näher zu kommen.
Das Libretto, das dem Kardinal und Vizekönig von Neapel Vincenzo Grimani zugeschrieben wird, führt die Handlung zu einem überraschenden Schluss. Es vermeidet gleichzeitig ein kitschiges moralines Happy End, wie einen zynischen Erfolg der intriganten Titelheldin, indem es sowohl Agrippina, als auch Ottone ans Ziel gelingen lässt. Dafür aber sorgt keiner der beiden, sondern am Ende allein Claudio, der während des Stückes eher wie ein seniler Trottel gewirkt hatte, mit dem man sein Spielchen treiben kann.

Vincent Boussard inszeniert das Geschehen auf einer spartanischen von Vincent Lemaire gestalteten Bühne, die lediglich mit dezent farbig ausgeleuchteten Wänden, Perlenvorhängen, die in mehreren Ebenen hintereinander über die Bühne laufen, und einem Minimum an Requisiten arbeitet. Er verlässt sich auf seine neun Darsteller, die nicht nur – für ein Haus wie die Staatsoper selbstverständlich – mit glänzenden Gesangsleistungen aufwarten, sondern über schauspielerische Fähigkeiten verfügen, die das, was man von einer Oper erwartet, weit überschreiten.
Sämtliche Darsteller befinden sich in jedem Moment voll in ihrer Rolle und spielen die Emotionen und Wünsche der Akteure in Mienenspiel und Gestik ausdrucksstark mit - auch in den Momenten, in denen sie nur als Beobachter einer Arie auf der Bühne stehen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals vorher eine derartige darstellerische Präsenz in einer Oper erlebt zu haben.

Insbesondere die Figur des Nero(ne) lässt eine weit über die Handlung hinausweisende psychologische Entwicklung erkennen. Wirkt er zu Beginn wie ein verwöhntes, antriebsloses Kind, das der Mutter in ödipaler Liebe verfallen ist, wird er zum Ende nach einem gestisch gut angedeuteten Muttermord zum aggressiv rebellierenden Teenager, der mit seinen aufgerissen rollenden Augen bereits den Wahnsinn andeutet, in den Nero in seinem späten Leben verfallen wird. Seine fehlende Männlichkeit wird durch die Besetzung mit der Amerikanerin Jennifer Rivera in einer Hosenrolle noch besonders herausgehoben.
Erzeugt die Oper mit ihrer zugespitzten Theatralik im Allgemeinen oft einen Bruch in der Möglichkeit des emotionalen Mitgehens, „packt“ Agrippina in der Staatsoper den Hörer und zieht ihn mit in das Geschehen hinein, so dass die über 4(!)stündige Haltung kurzweilig vergeht. Grandios wirkt in dieser Hinsicht das Liebesduett zwischen Ottone und Poppea, das im positiven Sinn Hollywood-reif herüberkommt, wofür die Sensibilität Bejun Mehtas (Ottone) mindestens ebenso verantwortlich ist, wie die weiche Komposition Händels.

Nerone, Pallante und Agrippina

Boussard kleidet sein Ensemble in von Christian Lacroix entworfene Kostüme, die überwiegend neuzeitlich sind. Agrippina erscheint als dynamische Top-Mangerin, die Vasallen Pallante und Narciso als austauschbare, gesichtslose Anzugsträger, Ottone in lässiger Eleganz, Nerone im auffälligen Stil eines jugendlich unreifen Stutzers. Lediglich Claudio erscheint als eine Mischung aus heruntergekommenem römischen Feldherrn und dekadentem Renaissance-Fürst.
Geschickt verzichtet Boussard darauf die Handlung durch konsequente Requisiten- und Kostümausstattung in eine definierte Zeit zu verlegen. So ist seine Inszenierung gleichzeitig klassisch, wie von zeitloser Lebendigkeit.
Garniert wird die Ausstattung durch Elemente von Humor, Klamauk, Erotik und Frivolität.
Lesbo, der Diener Claudios, erscheint das erste Mal auf der Bühne, um von der Rettung Claudios zu berichten, von dem das Gerücht umging, er sei nach der Eroberung Britanniens in einem Seesturm ertrunken. Boussard illustriert das, indem er Lesbo wie einen Highlander gekleidet in einem Schwimmreifen auftreten lässt.
Ein zusammengefalteter Schirm, den Nerone von hinten wie eine Lanze zwischen den Beinen Pallantes hindurchführt, macht dessen sexuelles Verlangen nach Agrippina, die ihm gegenübersteht, unübersehbar. Selbst ein Blowjob darf auf der Bühne stattfinden.
Viele Inszenierungen drohen durch derartige „Ausfälle“ ins Blamable abzudriften. Boussard gelingt es in seiner Inszenierung jedoch, mit so viel Fingerspitzengefühl zu dosieren, dass seine Aufführung lebendig wird, ohne eine Sekunde lang ins Vulgäre abzugleiten.

Ich habe die Musik bewusst noch mit fast keinem Wort erwähnt. Nicht weil sie schlecht gewesen wäre. Im Gegenteil: Die Akademie für Alte Musik Berlin unter René Jacobs spielte mit einer Perfektion und Lebendigkeit, die den Schauspielern(!) in keiner Weise nachstand. Aber das Geschehen auf der Bühne und auf einem Laufsteg, der zwischen Publikum und Orchestergraben hindurchgeführt war, fesselte – trotz der italienischen Sprache - dermaßen, dass ich die Anwesenheit des Orchesters immer wieder völlig vergessen habe.

Händel erreicht mit diesem Werk noch nicht die Opulenz seinen späteren Arbeiten. Es ist weder mit dem Messias noch mit der Feuerwerks- oder Wassermusik zu vergleichen.
Seine Musik setzt immer wieder einmal z.B. mit Barocktrompeten oder Pauken besondere Akzente. Die Inszenierung hebt das noch zusätzlich hervor, indem sie nicht in den Orchestergraben integriert werden, sondern wie Triumphhörner im römischen Stadion von einem Seitenbalkon über der Bühne erklingen.
Überwiegend arbeitet Händel aber sehr „song“dienlich und bietet den Sängern das akustische Fundament für ihre Darstellung. Die positiven Aspekte davon sind im Vorangehenden erwähnt worden.

Insgesamt ein grandioser Opernabend!

Gar keine Kritikpunkte?
Nun ja, die Staatsoper selber zeigte sich (mal wieder) als Service-Wüste. Viele Besucher mussten ihren Sekt, oder ihr Bier schnell herunterstürzen, weil es dem Personal an den Getränketresen nicht gelingen konnte, das Publikum rechtzeitig zu bedienen. So spielte sich für einen nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums die gesamte Pause in der Schlange ab.
Aber es gibt Hoffnung. Nach dem frühen Ende dieser Spielzeit zieht die Staatsoper für drei Jahre ins Schiller-Theater um. Das Haus wird renoviert. Vielleicht hat bei den Plänen jemand an eine Verbesserung der gastronomischen Infrastruktur gedacht.

Besetzung
Alexandrina Pendatchanska (Agrippina)
Bejun Mehta (Ottone)
Anna Prohaska (Poppea)
Jennifer Rivera (Nerone)
Marcos Fink (Claudio)
Daniel Schmutzhard (Lesbo)
Neil Davies (Pallante)
Dominique Visse (Narciso)

Akademie für alte Musik Berlin unter René Jacobs





Norbert von Fransecky



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