Musik an sich


Reviews
Perotin (Hilliard Ensemble - Aumüller)

Thy Kiss of a Divine nature. The contemporary Perotin


Info
Musikrichtung: Mittelalter vokal / Dokumentation / Film

VÖ: 29.11.2005

Arthouse Musik / Naxos
3 DVD (2005) / Best. Nr. 100 695


Gesamtspielzeit: 380:00



MITTELALTER ZWISCHEN KATHEDER UND TANZTHEATER

Dieses drei DVDs umfassende und insgesamt dreihundertachtzig Minuten lange Multi-Media-Set über das musikgeschichtliche „Phantom“ Perotin gehört zu den interessanten Merkwürdigkeiten zum Jahresende 2005. Der große Aufwand spricht für die Besessenheit von Regisseur, Ausführenden und Wissenschaftlern!

Das Kernstück ist eine Semi-Dokumentation über jenen geheimnisvollen Komponisten, der Ende des 12. Jahrhunderts an Notre-Dame zu Paris die ersten mehrstimmigen Meisterwerke des Abendlandes komponierte: drei- und vierstimmige Stücke über einen gregorianischen Cantus-Firmus, bestehend aus kleinen, pulsierenden rhythmischen Zellen, die den Text in vokale Ornamente auflösen. War diese als Organum bezeichnete Gattung lange Zeit trockener Stoff für musikwissenschaftliche Seminare, so ist sie inzwischen Dank erlesener Interpretationen durch das Hilliard Ensemble, das Ensemble Gilles Binchoise oder jüngst Tonus Peregrinus längst einem breiten Publikum bekannt geworden: eine in ihrer künstlerischen Strenge faszinierende Musik, deren Klangatome sich wie in einem Kaleidoskop zu immer neuen vieldimensionalen Mustern gruppieren. Selbst zweistimmige Stücke entwickeln bereits eine verblüffende Klangfülle. Dazu kommt vor allem bei den vierstimmigen Stücken der Zauber sich überlagernder Rhythmen: Wie in einem Uhrwerk mit seinen komplizierten Zahnradübersetzungen greifen die Stimmen ineinander. Zeitlich liegt diese Musik der Erfindung der Uhr wohl kaum zufällig kurz voraus ...

Regisseur Uli Aumüller nähert sich Magister Perotinus, von dem nur der Name bekannt ist, in einem vielschichtigen Porträt unter dem Titel Thy Kiss of a Divine nature. The contemporary Perotin.
Die Musik erklingt in der Interpretation des Hilliard Ensembles. Kontrapunktiert werden die notwendig fiktiven Klangrekonstruktion durch inszenierte Gelehrtendispute zur historischen Aufführungspraxis sowie zur Bedeutung und Philosophie dieser mittelalterlichen Avantgarde-Musik. Dabei treffen aufeinander die Musikwissenschaftler Christian Kaden, Jürg Stenzl und Rudolf Flotzinger sowie der Kulturhistoriker Martin Burckhardt. Die manchmal etwas gekünstelte Gesprächsatmosphäre machen die vier durch Begeisterung und Engagement für die Sache vergessen. So ganz nebenbei lernt man viel über die fremdartige Musik- und Glaubenswelt des Mittelalters. Daneben gibt es Einblicke in die Arbeit des exzentrischen Choreographen Johann Kresnik, der Musik und Texte mit zwei Tänzerinnen in Bilder übersetzt: „Die andere legt sich jetzt mal auf den Boden und robbt auf ihren Brustwarzen rüber.“ Inspirierend und zugleich provozierend die Idee von Martin Burckhardt, Maria als „größte Verführerin“ aller Zeiten zu präsentieren, die Gott zur unkörperlichen Zeugung und Menschwerdung bewegt hat.

Bilder – oder bessser: animierte Projektionen – auf den Kirchenwänden von St. Petri in Lübeck inszenieren auch den Gesang der vier Hilliards als klingendes Uhrwerk. Das alles ist mehr oder weniger episodenhaft miteinander verknüpft. Man gewinnt den Eindruck eines Werkstattbesuchs, nur wenige audio-visuelle Werkstücke scheinen wirklich fertig zu sein. Ein Film über die Idee eines Films über einen mittelalterlichen Musiker, von dem man fast nichts weiß. Passagenweise gelingt eine wirklich beeindruckende Verschmelzung von Bildern, Musik und wissenschaftlicher Spekulation, so bei Kathedrale von Laon, deren Lichtverhältnisse während eines Tages im Zeitraffer vorbeiziehen, während das dreistimmige Weihnachts-Organum Alleluja Nativitas erklingt. Dann wieder verströmt diese Produktion eine etwas trockene Schulfernsehen-Atmosphäre.

Die beiden(!) Bonus-Platten bieten erstens eine CD-Produktion mit den Stücken des Films in besten Klangqualität und Hilliard-typischer Makellosigkeit. Wobei das Schwelgen im Klang, das die ältere Produktion von 1988 auszeichnet (ECM New Series) hier einem rhythmisch noch differenzierteren, besetzungsmäßig zudem schlankeren Konzept gewichen ist. Zweitens gibt es auf einer Bonus-DVD einen vollständigen Mitschnitt des inszenierten Lehrdisputs der vier Experten im Rahmen eines Kolloquiums, das 2003 im Chorgestühl des Schleswiger Domes aufgezeichnet wurde. Dazu gibt eher fragmentarische Making-Offs des Films sowie ein Hörspiel, das man auch als detaillierten Audio-Kommentar zum Film auf der ersten DVD hören kann. Vieles, was oben nur angedeutet wird, bekommt hier wesentlich größere Tiefenschärfe. Ein weiterer Soundtrack der Hilliards (wozu?) rundet diese dritte Scheibe ab.

Also: Alles mehr als randvoll, doppelt kommentiert und inszeniert, ohne dass man den Sinn und Notwendigkeit dieser vielen Anwege zunächst immer durchschaut. Soviel Perotin oder Perotin-Hypothesen waren seit dem Mittelalter wohl noch nie. Aber ob diese überaus ambitionierte Produktion außerhalb von Mediotheken und musikhistorischen Seminaren Liebhaber finden wird?



Georg Henkel



Besetzung

Uli Aumüller: Regie
Christian Kaden, Jürg Stenzl, Rudolf Flotzinger, Martin Burckhardt: Kommentare
Hilliard Ensemble (David James, Rogers Covey-Crumb, Steven Harrold, Gordon Jones): Gesang
Johann Kresnik: Choreographie
Simona Furlani: Tanja Oetterli, Tanz


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