Musik an sich


Reviews
Bach, J. S. (Hantaï)

Goldbergvariationen BWV 988


Info
Musikrichtung: Cembalo

VÖ: 01.01.2004

Mirare / Note 1 (CD DDD (AD 2002) / Best. Nr. MIR 9945)



IM RAUSCH DER VARIATION

J. S. Bach: Spielt man seine Musik nun auf dem Klavier oder - historisch korrekt - auf dem Cembalo? Diese Frage sollte sich eigentlich überlebt haben. Es kann hier nicht die um Ausschließlichkeit eines Ansatzes gehen, sondern nur um ganz unterschiedliche interpretatorische Annäherungen an die Musik mit jeweils ganz eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Und die liegen nicht nur im gewählten Instrument, sondern auch, je nachdem, im Können oder Unvermögen des Interpreten.
Wenn der Kritiker dann wie im aktuellen Fall mit sich selbst trotzdem nicht einig werden kann, verheißt das eine spannende Aufnahme.

Also: Dies ist wohl die bei weitem fantasievollste, farbigste und auch detailversessendste Cembalo-Version der Goldbergvariationen, die ich kenne. Pierre Hantaï läßt Bachs berühmten Zyklus auf seinem Instrument (ein resonanzreicher, wohlklingender Nachbau nach deutschen Vorbildern) virtuos rauschen, funkeln und glitzern und den Hörer darüber alle manuelle wie mechanische Vertracktheit vergessen. Das von Bach geforderte Spiel auf zwei Manualen nutzt der Interpret für effekvolle Farb- und Registerwechsel, durch seine sehr flexible Tempowahl und eine entsprechende Phrasierung und Artikulation bekommt jede Variation ihre ganz individuelle Physiognomie.
Hantaïs Spiel ist dabei weniger kantabel, als gestisch und narrativ - was vor allem klaviergeprägte Hörgewohnheiten zunächst irritieren dürfte. Hat man Glenn Goulds konstruktivistische Stringenz oder Andras Schiffs pulsierend-sonores Spiel im Ohr, muss man seine akustischen Antennen sozusagen neu justieren. Hantaï sorgt mit agogischer Feinabstimmung für ununterbrochene und unerwartete Textur- und Spannungswechsel, die freilich zu ganz verblüffenden, auch mitreißenden Lösungen führen. Da entspinnen sich zwischen den verwickelten kontrapunktischen Linien aufregende, ja witzige Dialoge und Konflike. Da werden die Läufe und Triller zu ebenso dramatischen wie artistischen Figuren stilisiert, die übermütig über die Tasten springen (Variation 14), ihre gezierten Pirouetten drehen (Variation 20) oder pathetisch und ironisch zugleich aufrauschen (die Ouvertüre der 16. Variation), dabei aus dem Cembalo fast eine Orgel machen, bis sie dann wie der Champagner aus der Flasche zu schießen scheinen(v. a. 26. Variation ff). In solchen Momenten spielt Hantaï die Musik wahrlich mit durchgetretenem Gaspedal. Großartig, wie es ihm dabei gelingt, die Durchsichtigkeit des mehrstimmigen Satzes selbst bei sehr schnellen Tempi zu gewährleisten!

Daneben gibt es aber auch eher grüblerische und versonnene 'Typen' zu entdecken (z. B. Variation 25). Wie bei der zugrundeliegenden Aria, die den Zyklus eröffnet und beschließt, scheint mir Hantaïs darstellendes Spiel dort nicht so überzeugend, weil die Detailgestaltung auf Kosten der Sanglichkeit geht: Die Musik 'erzählt' auch hier, mehr aber noch der Interpret, der diese Stücke so unter Spannung setzt, dass sie weder gelassen ausschwingen noch ungezwungen fließen können. Da fehlt mir der ruhige Atem. Besonders das Finale mit der berühmten Kombination zweier Volkslieder (Variation 30) klingt zu sehr nach anstrengendem (oder besser: angestrengtem) Kontrapunkt, nicht wie ein selbstironischer Kehraus des Komponisten. Ein weniger spannungsvoller Zugriff wäre hier mehr gewesen.

Ich bewundere diese auch klangtechnisch makellose Aufnahme, einiges hat mich regelrecht vom Stuhl gerissen. Wer das geheimnisvolle Leben von Bachs Wunderwerk gleichsam im Zoom erleben will, der wird voll auf seine Kosten kommen. Wer neue Möglichkeiten des Cembalo(spiels) erkunden will, ebenfalls. Doch bei all diesen Vorzügen vermisse ich manchmal jenen großen Bogen, der all diese schönen Details und Miniaturen wieder zu einem organischen Ganzen zusammenführt.
Deshalb "nur" ganz persönliche



Georg Henkel



Trackliste
01-32 Golderbergvariationen BWV 988
Besetzung

Pierre Hantaï, Cembalo (nach deutschen Vorbildern)


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