Chemia

Something To Believe In


Info
Musikrichtung: Post Grunge

VÖ: 29.04.2022

(DCM)

Gesamtspielzeit: 39:23

Internet:

http://www.chemiasound.com


Der Post Grunge, den in den 1990ern Bands wie Live oder Collective Soul prägten, die nicht ganz so nölig bzw. nihilistisch wie Nirvana oder Soundgarden zu Werke gingen, scheint über weite Strecken ausgestorben zu sein. Etliche von den alten Stilprotagonisten gibt’s allerdings immer noch bzw. wieder, und zu ihnen zählen auch Chemia, die sich seit dem frühen neuen Jahrtausend in Polen dieser Sorte von Musik widmen, welchselbige heute schon wieder ein wenig anachronistisch wirkt, dem Titel des Openers ihres nach längerer Pause erschienenen Albumfünftlings Something To Believe In, „Modern Times“, zum Trotz. Diese Nummer plaziert sich dann auch gleich in einem imaginären Dreieck aus Soundgarden, Aerosmith und ein paar Südstaatenrockern, während das folgende „Angina“ mehr als überdeutlich von Led Zeppelins „Kashmir“ beeinflußt worden ist, was die strukturgebenden, unter dem Refrain wiederkehrenden Rahmenteile betrifft, während die halbakustischen Strophen wiederum wenig mit Page & Plant zu tun haben, sondern eher Anklänge an neuzeitliche Düster-Progrocker transportieren, etwa Gazpacho oder, um in Polen zu bleiben, Riverside. Hier ist dann auch gleich ein guter Teil der Gastmusiker im Einsatz, die das Booklet der Scheibe in fast deutsch anmutender Ordnungswut durchnumeriert aufzählt: Die Streicher in dieser Nummer sind echt, im Gegensatz zu denen im folgenden „New Romance“, die Sacha Puttnam gasthalber aus der Konserve holt, die aber auch deutlich weniger im Fokus stehen, wobei es sich hier um eine ziemlich geradlinige und eingängige, größtenteils recht zügig vorwärtsmarschierende Rocknummer handelt, die das etwas black-sabbath-angehauchte Riff aus dem Intro nicht entscheidend ausbaut, aber zumindest phasenweise einen auffälligen Baß auffährt.
Damit wären die Grundingredienzen des Sounds der fünf Polen benannt. Hier und da trauen sie sich sogar Gitarrensoli oder zumindest etwas markantere Leads aus diesem Instrument, etwa in „The Widows Soul“, wo zudem im Refrain gasthalber Jenifer Diehl die Backings singt. Wer allerdings hier aufhorcht und nach „Angina“ schon den zweiten Tristania-Verweis zu entdecken glaubt, wird enttäuscht: Mit den norwegischen Düstermetalmeistern haben Chemia praktisch nichts zu tun. Dafür fällt auf, dass sie aus dem Melodic Rock das Händchen für eingängige Refrains herübergeholt haben, wie beispielsweise der Titeltrack deutlich macht, dessen Chorus ziemlich schnell ins Ohr geht und sich dort auch zu verankern in der Lage ist. Und selbst „Beneath The Waterline“, mit 5:14 längster Track der Scheibe und eine gewisse verschrobene Prog-Schlagseite offenbarend, wurde ein in gewisser Weise merkfähiger Refrain eingepflanzt, trotz des ungewöhnlichen Tonartwechsels in selbigem. Mit „Blood Money“ steht der kürzeste Song des Zehntrackers gleich dahinter, bringt es nur auf knapp über drei Minuten, gehört allerdings zu den weniger markanten Nummern, obwohl das Quintett auch hier einen soliden Standard nicht unterschreitet und Sam Tanner hinter die zweite Strophe ein paar coole Hammondorgeln legen darf. Nach der zweiten Strophe tut er das gleich nochmal, und man hofft auf ein starkes Hauptsolo, aber das bleibt aus – es geht fast nahezu in den Schlußteil rüber. Hier und auch an einigen anderen Stellen wünscht man sich, die Polen würden etwas mehr aus sich herausgehen und ihre zweifellos vorhandenen instrumentellen Kompetenzen noch stärker zum Einsatz bringen. Dass sie gute Ideen haben, zeigt wiederum auf dem Fuße das ruhigere, südstaatenlastige und Dobro, Pedal Steel und Mundharmonika geschickt einflechtende „Tumbleweed“. Weil ihnen das so gut gefallen hat, darf Harmonikaspieler Mark Feltham in der jetzt konsequent als solche gestalteten Ballade „The Best Thing“ gleich nochmal ran. Hier zeigen Chemia, dass sie im Americana-Feld mithalten könnten, wenn sie wollten – aber sie sehen das offenkundig nur als eine Facette ihres Schaffens, wenngleich auch das Cover verdächtige Elemente in dieser Richtung auffährt. Andererseits hätte der Sportwagen auch von einer L.A.-Haarspray-Band gefahren werden können, und die aus einem Felsen herauswachsende Burg hätte auch jede Power-Metal-Band mit Kußhand übernommen, ebenso das Bandlogo. Mit beiden genannten Genres haben Chemia freilich nichts am Hut, wenngleich sie wie beschrieben eher schwierig zu klassifizieren sind und das „Post Grunge“-Label noch am besten paßt, zumal beispielsweise auch der Closer „Eagles In The City“ diesem Stil frönt, trotz des Faktes, dass der Titel auch der L.A.-Haarspray-Band oder der Power-Metal-Truppe hätte einfallen können. Im Refrain gibt’s gar noch einen ganz kleinen Schlenker gen Beatles-Feeling, aber das wundert einen jetzt auch nicht mehr und die eigentümliche Dynamik in der Hinführung zu diesem Refrain, die wieder eher auf einem Prog-Mist gewachsen sein könnte, gleichfalls nicht. Auch hier wartet man freilich noch irgendwie auf das große Solo, das indes nicht kommt. Kompetent von Andy Taylor produziert (auch Gastgitarrensolist in „The Widows Soul“), ist Something To Believe In für in den Neunzigern Musiksozialisierte sicher ein Antesten wert, wenngleich man bis auf den wirklich äußerst eingängigen Refrain des Titeltracks keine Wunderdinge erwarten sollte und das Gefühl nicht loswird, dass Chemia mehr können, als sie hier zeigen.



Roland Ludwig



Trackliste
1Modern Times4:20
2Angina3:46
3New Romance3:32
4The Widows Soul4:11
5Something To Believe In3:30
6Beneath The Waterline5:14
7Blood Money3:04
8Tumbleweed3:57
9The Best Thing3:41
10Eagles Of The City4:08
Besetzung

Łukasz Drapała (Voc)
Wojciech Balczun (Git)
Maciek Papalski (Git)
Błażej Chochorowski (B)
Adam Kram (Dr)



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