Veronika in San Francisco: Eberhard Görner mit einer Monographie über Walter Jurmann
Den Namen Walter Jurmann werden nicht viele Musikliebhaber im aktiven Gedächtnis haben – Lieder aus seiner Feder aber schon: „Veronika, der Lenz ist da“ prangt da gleich auf dem Cover der vorliegenden Monographie, interessanterweise vor leeren Notenzeilen, obwohl Jurmann die Musik, nicht aber den Text verfaßt hat. Das freilich nur am Rande bemerkt. Walter Jurmann, 1903 in Wien geboren, reüssierte ab 1927 in Berlin als Liedkomponist, aber auch als ausführender Künstler. Viele seiner Werke entstanden in Zusammenarbeit mit dem Texter Fritz Rotter und dem Arrangeur Bronislaw Kaper – Jurmann, von Haus aus Pianist, flossen die eingängigen Melodien für alle Gelegenheiten nur so aus dem Hirn, die beiden anderen halfen tatkräftig, das Ganze in Form zu gießen und die Weimarer Republik damit zu tränken. Wir befinden uns bekanntlich in einer Zeit, da Berlin zu den Weltzentren anspruchsvoller Unterhaltungsmusik zählte (dass auch damals schon viel produziert wurde, was man sich heute allenfalls noch mit Nostalgiefaktor schönhören kann, steht auf einem anderen Blatt), was dazu führte, dass Talente aus vielen Regionen angezogen wurden, so auch Jurmann und Rotter, die sich beide schon in Österreich kennengelernt hatten, und der Pole Kaper. Was dann entstand, ist ein kleines Stück Musikgeschichte: Richard Tauber nahm Lieder von ihnen auf, und zudem etablierten sie sich im Tonfilm, der 1927 gerade erfunden worden war und einen schlagartigen Siegeszug in den Kinos nicht nur Berlins antrat. Jurmann zeigte sich dabei flexibel, trat außer als Komponist auch als Pianist und als Sänger in Erscheinung und schrieb letztlich 1930 für die Comedian Harmonists den eingangs erwähnten Evergreen, ebenfalls auf einen Text von Fritz Rotter. So hätte es noch lange weitergehen können, wenn, ja wenn sich nicht die politische Lage in Deutschland geändert und der nationalsozialistische Ungeist ab 1933 das künstlerische Berlin zu leeren begonnen hätte. Jurmann verließ Deutschland noch 1933 gen Paris, wo er sich schnell ebenfalls als Komponist vor allem im Filmbereich etablieren konnte und ein Jahr später ein Angebot vom sich auf einer Europareise befindenden Louis B. Mayer erhielt, dem Chef von MGM, einem der größten seinerzeitigen US-Filmkonzerne. Jurmann nahm an, übersiedelte an die US-Westküste und schaffte es, seine Liedkompositionen weiter in erfolgreiche Filme mit den größten Stars seiner Zeit zu bringen, zunächst als Festangestellter bei MGM, nach dem Zweiten Weltkrieg (in dem er, ab 1941 US-amerikanischer Staatsbürger, musikalische Truppenbetreuung u.a. in Hospitälern leistete) dann freischaffend, wobei es ab den 1950ern etwas ruhiger um ihn wurde. 1966 schrieb er eine „Stadthymne“ auf San Antonio in Texas, was ihm bereits 1936, damals mit San Francisco, im Filmkontext gelungen war. 1971 starb er auf einer Europareise, die er mit seiner zweiten Frau Yvonne, einer gebürtigen Ungarin, unternahm, in Budapest an einem Herzinfarkt. Yvonne Jurmann geb. Jellinek, eine erfolgreiche Modedesignerin, nahm sich in der Folge des Werkes ihres verstorbenen Mannes an, was letztlich zur Erarbeitung eines Werkverzeichnisses und der Archivierung seines musikalischen Nachlasses an der University of California in Los Angeles führte. Zahllose Projekte und Aufführungen von Jurmanns Werken wurden von ihr initiiert und/oder gefördert, und auch die Karriere von Max Raabe und seinem Palast Orchester in den USA ist maßgeblich auf ihre Netzwerkarbeit zurückzuführen. 2005 lernte der Autor und Filmemacher Eberhard Görner Yvonne Jurmann kennen, und es entwickelte sich die Idee, einen Film über Walter Jurmann zu drehen. Aus unbekannten Gründen kam das Projekt aber nicht so in die Gänge wie gedacht – statt dessen entstand erst einmal ein Buch, kein Drehbuch, sondern ein richtiges Buch mit 280 Seiten über Jurmanns Leben und Werk, und zwar in zwei große Komplexe gegliedert. Biographisches konzentriert sich im ersten Teil, der zweite mit immerhin etwa einem Viertel des Buchumfangs ist der lexikalische mit Werkverzeichnis, Filmographie und Auswahldiskographie. Der biographische Teil wiederum ist zwar vom Grundsatz her chronologisch geordnet, springt aber zeitlich doch immer mal hin und her und braucht erstmal etliche Seiten, um diesen chronologischen Grundrhythmus zu finden. Görner schreibt locker und unterhaltsam, aber doch kenntnisreich und nicht zu platt, und da er Zugriff auf zahlreiche Primärquellen hatte, ist sein Ansatz entsprechend materialreich ausgefallen, was auch in vielen Zitaten aus Interviews (natürlich die meisten mit Yvonne Jurmann), abgebildeten Dokumenten und weiteren Features deutlich wird. Viele Lieder werden zudem mit einem Notenexzerpt (meist die erste Seite) vorgestellt, einige auch lediglich im Textabdruck. Mit dieser Materialfülle muß man beim Lesen zurechtkommen, aber der Autor ist klug genug, den roten Faden mit solchen Zusatzelementen nicht zu stark zu zerschnippeln, wie das ja auch einem intelligenten Filmregisseur gelingen sollte, wenn er Gesangsnummern in einem Streifen integriert. Acht Farbseiten in der Mitte des sonst schwarz-weißen Buches bilden zudem Notenausgaben und andere Dokumente ab. Kritische Worte findet man im Buch bei einer derartigen Nähe des Autors zur Witwe seines „Sujets“ naturgemäß so gut wie nicht; der Rezensent ist aber mit der Lage auch nicht gut genug vertraut, um einschätzen zu können, ob solche irgendwo angebracht gewesen wären. Ein paar Wünsche bleiben allerdings auch lange Zeit oder gar ganz offen. So erfährt man eher beiläufig erst auf S. 171, dass auch Walter Jurmann Jude war – diese Information wäre weiter vorn, als die Flucht von vielen seiner Weggefährten aus dem nationalsozialistischen Berlin thematisiert wird (und die jüdische Herkunft, wo zutreffend, auch als Grund benannt ist), besser aufgehoben gewesen. Sehr dürftig ist der Teil über die Zeit zwischen 1903 und 1927 ausgefallen, also die Zeit vor seiner Übersiedlung nach Berlin, wobei Yvonne Jurmann anmerkt, dass ihr Mann wenig darüber gesprochen habe. Unaufgearbeitet bleibt allerdings auch, wie Jurmann als relativer Nobody (trotz der Tatsache, dass er als Hotelpianist am Semmering mal ein Lob von Richard Strauss bekommen hatte) 1927 so schnell in Berlin Fuß fassen konnte, im Hotel Eden als Pianist unterkam und dort abermals von diversen Großen wie Emmerich Kálmán mit der Prophezeiung einer glänzenden Zukunft versehen wurde – die Rahmenbedingungen, unter denen gerade Jurmann als einer von vielen Talentierten populär wurde, gehen im Nebel unter. Strategisch ungünstig ist die Tatsache, dass bisweilen ein Liedtextabdruck und ein Jurmann-Autograph direkt nebeneinanderstehen, aber offensichtliche Textunterschiede unerklärt bleiben. In unfreiwilliges Gelächter bricht man auf S. 78 im Frankreich-Kapitel aus, wo es heißt: „In Paris schlägt das Herz französischer Hochkultur. Das war auch in den Jahren 1933/34 so: Josephine Baker sang und tanzte in den Folies Bergère. Ihre nackte Haut war ihr Kleid, und die Männer wurden allein von ihrem Anblick betrunken ...“ Eher unglücklich ist auch der Fakt, dass das engagierte Friedenslied „A Better World To Live In“, das zwischenzeitlich als Chorfassung sogar in den Gedenkkonzerten zur Zerstörung Dresdens in der dortigen Frauenkirche aufgeführt worden ist, im Text permanent als seine letzte Komposition bezeichnet wird, das Werkverzeichnis aber für das Folgejahr (1968) noch „Long Live Israel“ ausweist, zu dem man im Text nichts erfährt. Möglicherweise beantwortet die 2006 erschienene Jurmann-Biografie von Elisabeth Buxbaum die eine oder andere der Fragen, aber die besitzt der Rezensent nicht. Als Parforceritt durch Jurmanns Leben ist das Buch, das sich enorm flüssig liest, trotz der erwähnten Einschränkungen gut geeignet. Eine CD-Beilage enthält zudem eine aktuelle Aufnahme von „A Better World To Live In“ (nicht die erwähnte Chorfassung, sondern Christoph Israel am Klavier und Max Raabe, der auch ein Vorwort zum Buch beigesteuert hat und Vorsitzender des u.a. hinter der verlinkten Homepage stehenden Vereins der Freunde und Förderer des Werks von Walter Jurmann e.V. ist, am Gesang), wenngleich man anmerken muß, dass eine CD-Beilage mit 2:37 Minuten Spielzeit fast an Ressourcenverschwendung grenzt. Aber wer mehr Jurmann hören möchte, kann sich ja durch die Diskographie forsten. (Außerdem soll die Aufnahme exklusiv sein, sagt der Infotext auf der Rückseite des Schutzumschlages – für Raabe-Sammler führt, wenn das stimmt, am Buch also kein Weg vorbei.) Roland Ludwig |
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