Bach, J. S. (Zehetmair, Th.)
Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001-1006)
|
|
Info |
Musikrichtung:
Barock Kammermusik Violine
VÖ: 15.112019
(ECM Universal Classics / 2 CD / AD 2016 / DDD / Best. Nr. ECM New Series 2551/52)
Gesamtspielzeit: 126:37
|
|
|
KLANGBRÜCKE UND PILGERWEG
J. S. Bachs Mikrokosmos für die Geige, seine Sonaten und Partiten für Solovioline, scheinen im Hinblick auf die Fülle der in ihnen verborgenen Deutungsmöglichkeiten unerschöpflich zu sein. In der Interpretation von Thomas Zehetmair erlebt man die Musik als eine Art Klangbrücke zwischen Himmel und Erde. Wie auf einem Pilgerweg kann man sich über die sechs Hauptwege (die je drei Sonaten und Tanz-Suiten) und ihre jeweilgen Nebenwege und Stationen (die einzelnen Sätze) hindurchhören und hindurcherleben - oder auch tanzen, denn bei aller Stilisierung und Abstraktion ist ein lebendiger tänzerischer Puls, der die Musik von innen her schwingen lässt, stets gegenwärtig, nicht nur in den höfischen Tänzen der Partiten.
Zehetmair wählt für die verschiedenen Genres jeweils ein eigenes barockes, darmbesaitetes Instrument - kostbare Originale des 17. und 18. Jahrhunderts - und je einen dazu passenden Bogen. Auf der Basis einer am Ideal der Klangrede ausgerichteten barocken Spieltechnik kann er sich mit größter Flexibilität auf die einzelnen Stücke einlassen.
Auf den formalen, komponierten Mikrokosmos Bachs, der in einem kaligraphisch notierten Autograph erhalten ist, reagiert er mit einer mikrokosmisch vertieften Interpetation, die den unerhörten Reichtum der Musik hörbar macht. Dabei gelingt es Zehetmair mit seinem gestischen Spiel, die affektbetonte, physische Seite der Musik (ihren Ausdrucksgehalt und ihre Klanglichkeit), mit der religiösen, spirituellen, metaphysischen Dimension zusammenzubringen - nicht im Sinne einer selbstverständlichen "prästabilisierten Harmonie", sondern als Prozess, als etwas, dass im im Moment der Aufführung immer wieder neu gewonnen, manchmal auch errungen und zu Darstellung gebracht werden will.
Insbesondere in den von Bach mit utopischer Konsequenz durchgestalteten mehrstimmigen Stücken wie den Sonaten-Fugen, die oft nur virtuell als solche realisierbar sind, verrät die Körnung des Geigenklangs, in die Rauigkeit und auch Harschheit gemischt sein können, viel von den Spannungen und Energien, die in dieser Musik gebannt und gebündelt sind.
Bei Zehetmair stecken die Tonkonfrontationen und kontrapunktischen Stimmverflechtungen voller Konflikte, Schmerz und Unruhe, Fragen und Suchen. Dafür sorgen nicht zuletzt eine kontrastreich konturierte Dynamik und markige, obertonreiche Artikulation. Aber ebenso gibt es da immer wieder große Zartheit und verhaltene Heiterkeit, wie z. B. in den Doubles von Sarabande und dem Tempo di Borea aus der Partita Nr. 1. Sie erscheinen wie die lichten, himmlisch entrückten und befreiten - erlösten - Gegenstücke zu ihreren erdenschweren Geschwistern.
Meditatives, nach innen Musiziertes - das Grave aus der 2. Sontate - wird mit herausfahrender Aktivität und Expressivität beantwortet (die anschließende Fuge). Dann wieder: Himmelsflug - bis an die Grenzen getriebene schnelle Tempi, die die Musik buchstäblich abheben lassen, die dabei allen physischen Ballast abstreift - für diesen Augenblick wenigstens (die Corrente der 2. Partita, das Allegro assai der 3. Sonate).
Brennpunktartig gebündelt werden all diese interpretatorischen Möglichkeiten in der monumentalen Chaconne der Partita Nr. 2. Fast unerträglich gespannt der Beginn, bevor sich die Musik in zunehmend freierem Spiel und ekstatischen Passagenwerk selbst übersteigt, aus der Todesbetrübnis sich zum Himmelhochjauchzen aufschwingt und wieder zurück in die irdischen Passionsspiele hinabsteigt.
In summa: Bachs Geigen-Universum als kunstvoll konstruierter, religiös durchwirkter Klangspiegel irdisch-himmlischer Freuden und Leiden; als Klangspiegel von Sehnsüchten, Ängsten, Kämpfen, von Freiheit und Erlösung, von Sinnhaftigkeit - und auch von selbstvergessenem Spiel, von unermüdlicher Fantasie und ungebrochener Schönheit, die von Zehetmair z. B. im berühmten Präludium der 3. Partita mit fast schon improvisiert anmutender Spontaneität gefeiert werden. Die Bourrée des vorletzten Satzes dieser Partita geht nahezu bruchlos in die finale Gigue über, ein ausgelassenes, nicht enden wollendes Halleluja, fröhlich ins Offene hinein getanzt ...
Im Bewusstsein um die Gefahr manieristischer Übertreibungen musiziert Zehetmair mit Reflexion und Überzeugungskraft; es gelingt ihm, die von ihm entdeckten divergierenden Kräfte auszubalancieren und die Musik nicht zum reinen Demonstrationsobjekt geigerischer Möglichkeiten werden zu lassen. Vielmehr scheint jede Phrase erfühlt und erfüllt, durchgestaltet im Sinne eines größeren, organischen Ganzen.
Dass dabei die barocke Klangrede stufenlos in die Klangsensibilität des 20. Jahrhundert übergeht, spricht für die Gegenwärtigkeit von Zehetmairs Ansatz (man höre nur die unwirklich fahlen Töne, mit denen das Adagio der 3. Sonate anhebt, das könnte so auch von György Kurtag stammen). Historisch informierte Aufführungspraxis als radikale Form der Vergegenwärtigung, als Erneuerung im Bewusstsein um das geschichtliche Gewordensein - so hat es auch Zehetmairs Leherer Nikolaus Harnoncourt immer verstanden. In dieser durchaus auch sperrigen, widerständigen Interpretation lebt dessen Geist weiter.
Aufgenommen in der räumlichen und leuchtenden Akustik der österreichischen Propstei St. Gerold wird von Tonmeisterin Hannelore Guittet jede Nuance dieser herausragenden Interpretation hörbar gemacht.
Georg Henkel
|
|
Besetzung |
Thomas Zehetmair, Barocke Violinen
|
|
|
|