Blumenkinder beim Veitstanz: Vierte Auflage des Rock Station Festivals im Jenaer Kulturbahnhof
Nomen est omen: Das Rock Station Festival findet am passenden Ort statt, nämlich im Kulturbahnhof in Jena, wobei Historiker irgendwann mal ergründen dürfen, ob hier die Henne oder das Ei nomenklatorisch als erstes am Start war. Die Rockfans der Jetztzeit hingegen freuen sich auch ohne Hintergrundanalyse über ein buntes Bandangebot, das bei der Viertauflage strukturell entstanden ist, indem man zwei laufende Touren mit je zwei Bands an einem Abend vereinte und noch eine fünfte Formation dazu holte. Der Rezensent schafft es nicht rechtzeitig zum planmäßigen Anstoßtermin 18.30 Uhr, sondern ist eine knappe Stunde zu spät dran – da haben die Israelis Bigfoot ihren Gig bereits beendet. Die Stimmen hinterher fallen durchaus divergierend aus: Der eine sagt, die ihn etwas an Black Sabbath erinnernde Band sei richtig gut gewesen, der andere fand sie okay, aber nicht weiter weltbewegend. Also bleibt bei passender Gelegenheit wohl doch nur ein eigener Check übrig. Wer Gleiches tun will: Die Truppe ist derzeit als Support für Wedge unterwegs. Für den Rezensenten beginnt der musikalische Teil mit Gaffa Ghandi, laut erster Ansage „aus der Stadt der Städte: Wanne-Eickel“. Das stellt sich bald als eine von vielen Flunkereien des mit allen komödiantischen Mitteln gewaschenen Bassisten heraus, der die Ansagen übernimmt, was zugleich die einzigen vokalen Beiträge während des Sets bleiben: Das Quartett, dessen Mitglieder in Wahrheit in Dresden und Berlin siedeln, arbeitet komplett instrumental und ist optisch ähnlich bunt zusammengesetzt, wie man es der verqueren Musik irgendwie schon anzumerken glaubte. Die Band besteht aus einem kleinen Gitarristen mit Uli-Jon-Roth-Gedächtnisstirnband und -frisur sowie einer Vorliebe für Hosenträger, einem etwas größeren Gitarristen, der seinen Rammstein-Pullover vor Gigbeginn ablegt und darunter ein gelbes Morkobot-Shirt trägt, was zur der gleichen Band huldigenden numetallischen Mütze paßt, einem „richtigen“ Metaller am Drumkit und dem besagten Bassisten mit Ibrahimovic-Dutt, Sleep-Aufkleber auf seinem Langholz und Bewegungsmustern, die ihn auch zum Backgroundtänzer bei Helene Fischer oder Moderator bei einem eventuellen Revival der Kultsendung Medizin nach Noten qualifizieren würden. Die Selbstbeschreibung der Musik lautet auf eine „ureigene Mischung aus vertracktem Stoner, wirrem Psychedelic, instrumentalem Rapmetal und Pseudoprogrock“, und wenn man dazu jetzt noch eine grundsätzliche Postrockaffinität addiert, kommt man dem Sound schon relativ nahe und steht doch abermals wie die sprichwörtliche Kuh vorm neuen Tor. Der Basser erzählt hinterher, seine Lieblingsband sei Gentle Giant, und das hat definitiv auf die Musik seiner eigenen Combo abgefärbt, wenn man sich die polyphonen Strukturen etwa gleich im urlangen Opener „There Is No Try“ mal genauer anhört, was man dank des exzellenten klaren Soundgewandes an diesem Abend auch problemlos kann. Dem Rezensenten fällt während des Gigs spontan eine moderne Version von Rush ein, aber eine moderne Version von Gentle Giant trifft’s natürlich noch besser. Song 2, geringfügig kompakter, heißt „Maximaler Standard“, weil in ihm nichts weiter Interessantes passiere, so die Ansage. Das stellt sich natürlich als eine weitere Flunkerei heraus, aber mit einem Körnchen Wahrheit, denn das Quartett hat hier doch tatsächlich ein paar völlig geradeaus rockende Vierertakte untergebracht. Im wieder urlangen nächsten Track darf man solche dafür mit der Lupe suchen, und besagter Song trägt den einprägsamen Titel „Progressive Concepts For A Modern World Of Multilayered Structural, Individual And Sociological Changeabilities“, zumindest aktuell – er ist noch unkonserviert, und vielleicht taucht er irgendwann ja mal unter einem anderen Namen, vielleicht „PCFAMWOMSIASC“ oder einer Kurzform wie „Progressive Concepts“, „Concepts“, „PC“ oder „For“, auf einem Album auf. Als Instrumentalband kann man sich ja da so mancherlei Freiheiten erlauben ... „Psychedelic Mode Activated“ als Setcloser stellt dann tatsächlich den psychedelischen Modus etwas stärker in den Fokus des Geschehens und wird vom Publikum ähnlich positiv aufgenommen wie die drei Songs zuvor, so dass das Quartett mit „Zinkerism“ noch eine fünfte Nummer als Zugabe auspackt. Die fällt ähnlich spielfreudig aus wie der Hauptset, der Basser ruft zum Pogo auf, und einige Enthusiasten haben in der Tat bereits während des Hauptsets begonnen, ihre Haarpracht zu schütteln, was bei der Taktwechseldichte Gaffa Ghandis ein gewisses rhythmisches Grundverständnis voraussetzt. Gaffa Ghandi sind auf einer Vier-Gig-Minitour mit Weedpecker unterwegs, und diese stehen als nächste auf der Bühne. Auch sie sind ein Quartett, auch sie spielen fünf Songs, auch sie gehen ziemlich vielschichtig zu Werke, auch sie verarbeiten Prog, Postrock und Psychedelic, und doch klingen sie ganz anders als Gaffa Ghandi. Die beiden Gitarristen schalten nicht selten auf Halbakustik zurück, während auf der anderen Seite der gelegentlich ausgepackte Doom etwas feister als bei den Dresdnern ausfällt, das genutzte Dynamikspektrum also etwas breiter ist. Außerdem arbeiten sie öfter mit Harmonien aus dem klassischen Metal und dem ebenso klassischen Melodic Rock. Dazu kommt, dass die Polen drei Gesangsmikrofone auf der Bühne stehen haben und diese auch während der Songs nutzen. Zwar bleiben auch bei ihnen schätzungsweise 90% der Gesamtspieldauer instrumental, aber die anderen 10% geben dem Sound Weedpeckers den ganz speziellen Pfiff: Beide Gitarristen (Optik: links Blumenkind, rechts Metaller) singen mit seltsam ätherischen Stimmen, gelegentlich auch noch unterstützt vom mit einem Afro aufwartenden und munter über die Bühne hopsenden Bassisten, so dass bis zu dreistimmige Satzgesänge möglich sind, die bisweilen Erinnerungen an Yes, Crosby Stills Nash & Young oder an eine weniger quäkige Version der Bee Gees aufkommen lassen. Endgültig einschätzen kann man das an diesem Abend allerdings nur schwer: Der instrumentale Sound ist prima ausbalanciert, die Vocals aber stehen ein klein wenig zu weit im Hintergrund – das einzige kleine Soundmanko des Abends. Aber das stört nicht entscheidend, und der Reiz des Materials entfaltet sich auch schon instrumental ein gutes Stück. Der schätzungsweise viertelstündige Opener und der noch längere Nachfolger lassen Erwartungen aufkeimen, Weedpecker würden die Songanzahl Gaffa Ghandis vielleicht noch unterbieten, aber die Warschauer packen dann doch noch drei geringfügig kompaktere Songs aus. Das Publikum ist sehr angetan und fordert eine Zugabe ein, aber es bekommt keine: Das Quartett spielt an diesem Abend erst den zweiten Gig in dieser Besetzung (Basser und Drummer sind neu dabei) und hat schlicht und einfach noch nicht mehr Material (das prinzipiell vorhanden wäre – es gibt drei Alben der Band) einstudiert. Hätte der Blumenkind-Gitarrist nicht auf diesen Umstand hingewiesen, man hätte ihn als Band-Nichtkenner nicht bemerkt – am Zusammenspiel zu deuteln gibt es jedenfalls nichts, zumindest nichts Offensichtliches. Könner halt. Wedge hatten bereits im Oktober 2016 zur dritten Auflage des Festivals gespielt – der Rezensent war weiland nicht anwesend gewesen, aber CrossOver-Kollege Jan-Markus Teuscher zeigte sich schwer beeindruckt, wie auf www.crossover-netzwerk.de nachzulesen ist. Das positive Urteil kann fünfzehn Monate später bestätigt werden: Das Trio rockt! Und es klingt nach mehr als einem Trio, denn auch hier ist Vielfalt Trumpf: Sowohl der Gitarrist als auch der Drummer singen (wobei ersterer den Löwenanteil des Leadgesangs übernimmt und, wenn er gerade nicht am Mikrofon steht, auch noch wie wild über die Bühne springt), und der Dritte im Bunde sitzt rechts an einer Orgel und hat zugleich eine Baßgitarre umhängen. Zumeist spielt er beide allerdings alternierend, bildet mit einer orgelnden Hand akustisch auch einen Baß ab oder konzentriert sich ganz auf die Saitenarbeit, dann ein klassisch besetztes Powertrio erzeugend – in welchem Maße er beide Instrumente auch parallel bedient, müssen Bandkenner oder Menschen, die in der fleißig tanzbeinschwingenden Menge etwas bühnennäher als der Rezensent aktiv waren, beurteilen. Was das in Berlin ansässige Trio erzeugt, ist klassischer Siebziger-Hardrock, allerdings ein Stück grooviger und tanzkompatibler als etwa Deep Purple, an die man bei dem satten Hammondgeorgel natürlich erstmal automatisch denkt. Die Band besitzt eine enorme Liveroutine: Erst 2014 gegründet, steht der Gigzähler schon jenseits von 200, und das macht sich natürlich positiv bemerkbar, wenn es gilt, ein Publikum zu packen. Wedge spielen zunächst vier kompaktere Songs, dann kommt „Make Yourself Free“, eingeleitet durch ein langes Orgelsolo und im Hauptteil dann in siebzigertypischer Manier durch ellenlange Instrumentalpassagen die Grundstruktur aufbrechend – ein Muster, das dann während des restlichen Gigs häufiger Verwendung findet. Das Grundtempo ist dabei oft recht flott, was das Tanzbeinschwingen im begeisterten Publikum natürlich massiv befördert, und dank des lauten, aber klaren Sounds entgehen einem die diversen Feinheiten der Wedge-Musik trotzdem nicht. Das noch unveröffentlichte „Water“ (das wohl auf dem in Kürze zu erwartenden neuen Album Killing Tongue stehen wird) und das bereits bekannte „Easy Chair“, beide dieser aufgebrochenen Struktur huldigend, schließen einen starken Gig ab und hinterlassen das Publikum so ausgepowert, dass es vergisst, eine Zugabe einzufordern. Bushfire kommt die undankbare Aufgabe zu, die schon etwas müde Menge nochmal zu mobilisieren, aber sie lösen das durchaus gekonnt, indem sie mit „Failure“ erstmal einen schnellen Muntermacher spielen, bevor sie „When Darkness Comes“ auspacken, den Titeltrack ihres neuen Albums, der ihren eigentlichen Fokus klarmacht: Doom zumeist mit starkem Stoner-Anstrich, im vorliegenden Fall allerdings eher klassischer Prägung, so klassisch, dass man trotz des Spiels zweier Gitarren Saint Vitus vor dem geistigen Auge bzw. Ohr stehen hat. So eindeutig fallen die Einflüsse im weiteren Verlauf des Sets freilich nicht mehr ins Gewicht (ein paar Prisen Psychedelic und Blues treten noch hinzu), und auch das Grundtempo halten Bushfire ähnlich vielschichtig wie ihre Besetzung, was die Herkunftsländer der Mitglieder angeht: Das Bandhauptquartier steht in Darmstadt, neben einem Deutschen gehören allerdings noch ein US-Amerikaner, ein Portugiese, ein Schwede und ein Italiener zur Besetzung. Dieser Fünfer verfolgt auch in seinen Songs eine völkerverständigende und daher grundpositive Zielsetzung, und so stößt der Doom den Hörer hier auch nicht in Abgründe, sondern liefert Energie, anstatt sie zu rauben. Abstrakte Szenarien wie in „Zombi“ wechseln mit Realitätsdarstellungen Marke „Die Trying“, und das mit dem Energietransport klappt an diesem Abend auch anderweitig: Der Sänger ist eigentlich nicht fit, aber er zieht den Gig trotzdem durch, wenngleich nicht immer an vorderster Front – ab Song 4 räumt er den Platz vorn für die Saitenbediener und stellt sich nach links hinten, die Rolle des Moderators und Quasi-Frontmanns freilich nach wie vor ausfüllend und dank seiner hünenhaften Statur auch dort hinten noch mit gewaltiger optischer Präsenz. Humor hat er bei aller Ernsthaftigkeit des Grundanliegens der Bandarbeit auch, indem er z.B. den Bassisten als Steve vorstellt, obwohl dieser eigentlich Vincenzo heißt. Auch der Gesang fällt durchaus vielschichtig aus, von klagendem Klargesang bis zu Geschrei mäßiger Wildheit das komplette Spektrum abdeckend, was man dank abermaligen klaren Soundgewands auch problemlos nachvollziehen kann. Nur die Batterien des Publikums können Bushfire nicht mehr komplett wieder aufladen – Mitternacht ist längst vorüber, der Abend war lang, und die Tanzbeine zucken somit nicht nur wegen des deutlich niedrigeren Durchschnittstempos weniger intensiv als bei Wedge. Aber die Stimmung bleibt gut, auch Bushfire werden gebührend abgefeiert und packen außer den beiden geplanten Zugaben sogar noch ein ungeplantes weiteres Extra aus – schon lange nicht mehr geprobt, lautet die Ansage, aber auch hier merkt der Außenstehende davon nichts. So endet kurz vor 1.30 Uhr der Gig des multinationalen Quintetts und damit ein abermals bemerkenswertes Indoorfestival mit exzellenten Bands und prima Stimmung, das Hoffnung auf eben solche weitere Auflagen macht. Roland Ludwig |
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