Kein Klangsumpf: Heinrich von Herzogenbergs spätromantisches weihnachtliches Oratorium Die Geburt Christi in Gera
Beim Begriff „Weihnachtsoratorium“ pflegt man an das unter diesem Titel bekannte Kantatenkonvolut aus der Feder Johann Sebastian Bachs zu denken, aber es gibt durchaus noch weitere Werke, auf die dieses Wort paßt. Man denke in der vorbachischen Zeit etwa an Heinrich Schütz‘Weihnachts-Historia oder in der seither vergangenen Zeit beispielsweise an Die Geburt Christi aus der Feder des österreichischen, lange Zeit in Leipzig tätig gewesenen Komponisten Heinrich von Herzogenberg. Letzteres Werk, anno 1894 aus der Taufe gehoben und im Gegensatz zu Bachs WO tatsächlich für die Komplettaufführung an einem Tag vorgesehen, führt ein gewisses Schattendasein, kommt aber doch immer mal wieder zum Vorschein, in der Weihnachtssaison 2017/18 gleich mehrfach: (mindestens) zweimal in Leipzig und Umgebung und nun auch in Gera, wo sich der Heinrich-Schütz-Chor und die Singakademie für dieses Aufführungsprojekt am zweiten Januarsonntag zusammengetan haben. Sechs Gesangssolisten (davon vier männliche) sowie der Mädchenchor des musischen Gymnasiums Rutheneum kommen hinzu, dazu ein Orchester aus Mitgliedern der Vogtland-Philharmonie Greiz-Reichenbach, wobei Herzogenberg über weite Strecken ausschließlich mit Streichern arbeitet und lediglich im dritten, dem Hirtengeschehen gewidmeten Teil Oboenklänge hinzutreten läßt. Letzter, aber strukturell hochwichtiger instrumentaler Mitstreiter ist Michael Formella an der Orgel, in diesem Fall einer Digitalorgel mit Spieltisch im Chorraum – die große Orgel der Kirche steht nicht auf passender Stimmtonhöhe und ist daher für diese Aufführung nicht einsetzbar, während das Digitalinstrument alternativ auch noch für die Harmoniumklänge heranziehbar ist. Herzogenberg hat das dreiteilige Oratorium mit etlichen Choralzitaten durchsetzt, einige „nur“ in der Bühnenmusik, aber auch vier zum Mitsingen der Gemeinde – damit das auch klappt, übt Kantor Martin Hesse vor Beginn der Aufführung den ersten dieser vier, „Dies ist der Tag, den Gott gemacht“ (auf die Melodie von „Vom Himmel hoch, da komm ich her“), als Beispiel ein, und das Auditorium in der nicht ausverkauften, aber gut gefüllten Johanniskirche erweist sich als der Aufgabe problemlos gewachsen. Dann geht das Stück los, und zwar mit einem Orgelvorspiel Formellas, das mit seinem übersichtlichen Tempo und seiner breiten Spätromantik die Marschrichtung für das Gros des weiteren Geschehens vorgibt. Trotzdem schafft es Dirigent Benjamin Stielau, die stückimmanente Dynamikentwicklung auch in der durchaus nicht einfachen Kirchenakustik klar darzustellen und das Ganze nicht im spätromantischen Klangsumpf versacken zu lassen, andererseits aber auch nicht so trockenes protestantisches Brot zu reichen, wie man es von einem Mann vielleicht erwarten würde, den bereits die Zeitgenossen pauschal als Brahms-Epigonen diffamierten. Zwar hört man speziell in den Chorsätzen das Brahms-Vorbild schon deutlich heraus, und die Kompaktheit vieler Arrangements begünstigt den protestantisch-strengen Charakter zumindest an einigen Stellen, aber das Gesamtwerk enthält genügend Farben, um die Aufmerksamkeit über die ganzen anderthalb Stunden hinweg bei der Stange zu halten. Selbige Spielzeit ist in 34 Einzelnummern gegliedert, die sich zu drei großen Teilen namens „Die Verheissung“, „Die Erfüllung“ und „Die Anbetung“ formen, innerhalb welcher das Geschehen weitgehend ohne Pausen durchgeht. Und da liegt auch mancherlei an Spannung drin, dazu ein Händchen für Detailarbeit – zudem nutzen Stielau und die Beteiligten auch die Kirchenakustik geschickt für betörende Klangwirkungen, etwa im exzellent entrückten Chor der Engel Nr. 19. Das gelingt freilich nicht in jedem Fall, und gerade die sechs Gesangssolisten bewältigen die Aufgabe, sich im riesigen neugotischen Raum angemessen Gehör zu verschaffen, ohne alle anderen in den Schatten zu stellen, durchaus unterschiedlich. Die undankbarste Aufgabe hat wie immer Altistin Marika Schmidt, die nicht selten, etwa im Soloquartett Nr. 14, arg forcieren muß, um nicht komplett unterzugehen, während sie im Duett Nr. 9 in der Rolle des Verkündigungsengels zumindest in den Höhenlagen ihrer Partie eindrucksvoll bewiesen hat, zu welch starken Leistungen sie mit ihrer leicht angedunkelten Stimme imstande ist. Tenor Albrecht Sack hingegen ist von der Rolle des Quasi-Evangelisten durchaus begünstigt und nutzt diese Position geschickt aus, um einerseits jedes Wort des Textes verständlich zu deklamieren, aber auch die Vorzüge seiner Stimme ins rechte Licht zu rücken – und das verdientermaßen, wie die schwierige, aber sehr gut gemeisterte Koloratur in Nr. 9 auf das Wort „Maria“ unter Beweis stellt. Nicht immer klappt die Feinabstimmung der Solisten mit Chor und Orchester bis aufs letzte Komma, aber die gelungenen Momente überwiegen deutlich. Auch dem Chor hört man nicht an, dass er aus zwei Ensembles zusammengewürfelt wurde (das zeigt sich lediglich optisch in zwei unterschiedlichen Schärpenfarben der Damen). Dass die Männerstimmen tendenziell eher unterbesetzt sind, führt zu einem wenig grundierten Klang, der aber der wünschenswerten Transparenz sogar eher förderlich ist. So ätherisch wie in Nr. 4 im Schlußteil bei „O klares Licht“ muß man mit einem ziemlich vielköpfigen Gesangsensemble erstmal arbeiten können, und auf der anderen Seite bekommen auch die Bombastpassagen einiges an Wucht mit auf den Weg, wenngleich eine etwaige drückende Wirkung zumindest nicht bis hinter zum Rezensenten, der auf der Orgelempore sitzt, reicht, allerdings in diesem Raum auch nicht leicht realisierbar wäre, ohne völligen Klangmulm zu erzeugen. So rundet sich ein insgesamt durchaus positives, wenngleich hier und da durchaus noch Reserven offenbarendes Bild der Aufführung eines Werkes, das mit einem Orgelnachspiel eine Art Rahmen besitzt und noch in dessen Verklingen hinein vom Publikum mit intensivem, wenn auch nicht sonderlich ausdauerndem Applaus belohnt wird. Roland Ludwig |
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