Stockhausen-JUBILÄUM
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Karlheinz Stockhausen hat nicht nur als Komponist Pionierarbeit geleistet. Auch wenn es darum ging, seine Musik an die Zuhörer zu bringen, beschritt er neue Wege: 1975 hat er zuerst einen eigenen Verlag und dann 1991 auch ein eigenes Label gegründet. Dort erschienen auf CD zunächst sämtliche der meist ursprünglich bei der Deutschen Grammophongesellschaft veröffentlichten Aufnahmen. Inzwischen gibt es aber auch zahllose Eigenproduktionen, dazu neben Partituren auch Bücher mit seinen Texten (bislang 11 Bände), Audiovorträge und DVDs. Das ergibt ein einzigartiges multimediales Komponistenporträt. Da ist es nur angemessen, dass am 13. Januar im Foyer des Kürtener Rathauses die Ausstellung „1975-2010: 35 Jahre Stockhausen-Verlag“ eröffnet wird.
(FAST) DAS GESAMTWERK ZUM ANHÖREN
Rund 180 cm nimmt derzeit allein die voluminöse Gesamtausgabe mit über 150 CDs im Regal ein! Das liegt zum einen einfach an der schieren Arbeitsleistung Stockhausens, der bis zum Schluss immer noch neue Stücke komponiert und aufgenommen hat. Zum anderen ermöglichte ihm das eigene Label Formen der Dokumentation, die ihm selbst ein Majorlabel so wohl kaum hätte bieten können. Nicht nur die Hauptwege seines Schaffens finden sich da, sondern auch die zahlreichen Abzweigungen:
Da gibt es von einigen Stücken Fassungen für verschiedene Instrumente, (z. B. bei dem Widmungsstück IN FREUNDSCHAFT, von dem Aufnahmen für Klarinette, Flöte, Saxophon, Trompete oder Posaune existieren).
Zahlreich sind auch die Auskopplungen aus dem monumentalen LICHT-Zyklus, von dem praktisch alle Szenen einzeln aufgeführt werden können, zum Teil in reduzierten oder neuen Besetzungen, die aufgrund der veränderten Gewichtung aber mehr sind als bloße Ergänzungen. So kann der DRACHENKAMPF vom DONNERSTAG aus LICHT problemlos für sich selbst stehen. KATHINKAS GESANG für Flöte und elektronische Klänge übertrifft gar die Originalfassung mit Schlagzeug aus der SAMSTAGs-Oper. Andere Doubletten dienen dagegen einfach zum vertieften Studium der Musik: LICHT-BILDER, die 3. Szene vom SONNTAG aus LICHT, gibt es in der ringmodulierten Version und dazu in einer „Naturfassung“.
Die multiplen Kammermusiken, aus denen sich die HOCH-ZEITEN zusammensetzen, kann man auch als einzelne Nummern auf insgesamt 6 CDs bekommen. Das ist dann fast schon zum Mitsingen und –spielen geeignet. An Übende ist auch gedacht, wenn sich z. B. der elektronische Teil einiger Stücke aus dem KLANG-Zyklus auch noch mal ohne das Melodieinstrument auf der gleichen CD befindet. Auf mehrere Boxen verteilt und in unterschiedlichen Kombinationen gibt es auch noch die einzelnen Klangschichten von FREITAG aus LICHT; zum Teil sind sie ja auch für selbständige Aufführungen gedacht. Ein besetzungsoffenes Werk wie SPIRAL existiert in drei Versionen: Integral in einer Vokalfassung, Auszugsweise in Versionen für elektronische Instrumente oder für Oboe. Und so weiter. Unübersehbar ist der Anspruch, hier ein Kompendium mustergültiger Aufnahmen vorzulegen, die zeigen, wie es klingen soll.
Das ist schon luxuriös – wenngleich nicht immer ganz billig. Dafür ist die Edition der Aufnahmen vorbildlich: Stockhausens Anspruch an optimale Hörbedingungen ging so weit, dass er vor jedem Stück einige Sekunden Anfangsstille beließ und nach jedem Stück eine generöse Pause vorgesehen hat. Vor allem bei gemischten Programmen ist das keine Marotte, sondern für eine entspannte Wahrnehmung ausgesprochen sinnvoll. Dass manche CDs bis zu 99 Tracks haben, erleichtert überdies das präzise Aufspüren von Partiturdetails, die nur wenige Sekunden währen.
Auch tonmeisterlich wurden die Aufnahmen von Stockhausen optimal betreut. Das digitale Remastering älterer Analogbänder bringt meist deutliche Klangverbesserungen mit sich, was man z. B. bei der MIKROPHONIE gut hören kann, da diese alte Aufnahme auch noch von SONY Classical vertrieben wird, dort allerdings nicht die Tiefenschärfe und Präsenz der neu abgemischten Stockhausenversion erreicht. Plastizität und Präsenz des Klanges sind sowohl bei den analogen wie bei den digitalen Produktionen oft herausragend.
Für den Raumklangkomponisten Stockhausen kam die SACD leider wohl nicht mehr rechtzeitig; sämtliche CDs, auch die neusten, sind konventionelle Stereoabmischungen, wenngleich immer noch sehr räumlich und mit eindrucksvoller Tiefenstaffelung. Für Stockhausen konnte das Medium einen Konzertbesuch sowieso nicht ersetzen, es sei damit wie mit den Postkarten vom Kölner Dom, man müsse schon das reale Gebäude besuchen. Ganz so bescheiden fallen die Ergenisse dann freilich doch nicht aus. Und: Mit vier Boxen könne man bei einigen Aufnahmen quasi-räumliche Wirkungen erzielen, so der Komponist. Spezielle Hinweise dazu finden sich in den ausführlichen, stets mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Fotos versehenen Booklets. Die Originaleinführungen des Komponisten sind zum Verständnis der Musik optimal, auch wenn sich die Erklärungen meist auf technische Fragen beschränken.
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Cover-Art à la Stockhausen |
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Auch nach dem Tod des Komponisten kommen weitere Silberlinge heraus, da noch immer nicht jedes einzelne Werk vorliegt. Seine langjährige Mitarbeiterin Kathinka Pasveer betreut jetzt die Produktionen technisch und sorgt dafür, dass der typische Stockhausenklang erhalten bleibt. Geblieben sind auch die „handgemachten“ Cover, denen sogar schon mal eine Ausstellung gewidmet wurde. An die Stelle von Stockhausens kunterbunten Originalentwürfen sind nach dessen Tod meist seine farbigen Partiturskizzen getreten. Sie setzten den unverwechselbaren synästhetischen Stockhausen-CD-Stil fort. Dass es sich um authentische Interpretationen handelt, garantieren schließlich die fortlaufende Box-Nummer und der Schriftzug mit Stockhausens Namen – auch den hatte der Komponist ja gerne immer wieder individuell gestaltet.
DIE 100. CD-BOX
Mit der jüngst erschienen 100. Folge der Edition wird jetzt im doppelten Sinn ein Jubiläum gefeiert: Das Programm eröffnet das 1977 komponierte, mit rund 15 Minuten Dauer schön griffige Orchesterwerk JUBILÄUM: ein für vier Orchestergruppen und zwei kleinere „Fernensembles“ groß besetztes und ausgesprochen farbiges Musikstück, das anlässlich des 125. Geburtstag des Hannoveraner Opernhauses entstand. Bei dieser Formelkomposition (s. dazu auch folgende Rezension von MANTRA) geht Strukturdenken mit Klangsinnlichkeit und Durchhörbarkeit zusammen. In mehreren Schichten entfaltet sich das ganze Stück aus einer hymnusartig gestalteten Formel, die sich durch eine eigentümlich orientalische Klangaura auszeichnet. Besonderen Glanz verleiht dem Stück ein fast ununterbrochen durchlaufendes Halo aus sehr hohen und schnellen Glockenspiel-, Klavier und Celesta-Klängen. Nachdem sie das Material zunächst unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit markanten solistischen Einlagen entfaltet haben, werden die instrumentalen Register in einem festlichen Tutti-Schluss zusammengeführt.
Bei den beiden anderen Stücken handelt es sich um weitere Varianten eines der bekanntesten und meistgespielten Zyklen des Komponisten: TIERKREIS. Hier darf man durchaus von Hits sprechen. Die ursprünglich für zwölf Spieluhren komponierten Sternzeichen-Melodien haben seit ihrer Entstehung 1974/75 schon für mehrere Werke Stockhausens den „cantus firmus“ abgegeben – z. B. für MUSIK IM BAUCH und SIRIUS – erfreuen sich darüber hinaus aber unzähliger Bearbeitungen durch Stockhausen selbst oder andere Interpreten. Von Stockhausen stammen z. B. die Fassungen für ein instrumentales Trio, für Klarinette und Klavier oder Stimme und Synthesizer.
2004 und 2007 entstanden zwei Serien mit Orchesterfassungen: FÜNF STERNZEICHEN und FÜNF WEITERE STERNZEICHEN. Die zweite Serie umfasst die definitiv letzten Stücke, an denen der Komponist gearbeitet hat. Beide Folgen liegen nun erstmals auf CD vor. Den Eigenschaften der Sternzeichen entsprechend verwandeln sich die Melodien in verspielte Orchesterminiaturen, die sich durch feine Texturen auszeichnen und neben überraschenden, humorvollen oder launigen Wendungen auch erstaunlich gefühlvolle Momente aufweisen, wie z. B. das Duett für Flöte und Oboe im letzten Teil von WASSERMANN. Sie sind insofern typisch für Stockhausens „Stil“, als sie sich, wie viele andere Werke von ihm, einer stilistischen Festlegung entziehen - aber von "Charakterstücken" zu sprechen, dürfte nicht ganz verkehrt sein. Charakterstücke mit szenischen Einlagen allerdings (beim STIER spaziert die Tuba übers Podium, dazu jazzt es im übrigen Ensemble)! Dieser TIERKREIS sollte wegen seiner relativ unkomplizierten Aufführungspraxis und Zugänglichkeit seinen Weg leicht ins Repertoire auch kleinerer Ensembles finden.
Beim zweiten TIERKREIS handelt es sich um etwas wirklich Besonderes: Man hört die historischen Kölner Rathausglocken, die ja sonst eher für ihr religiöses und volksmusikalisches Repertoire bekannt sind. Seit 2009 spielen sie zur Mittagszeit jetzt auch TIERKREIS-Melodien. Einige kleine Retuschen waren allerdings erforderlich, um die Originale auf diese „Riesenspieldose“ zu übertragen. Zwar pfeift noch niemand diese durchaus sanglichen Melodien auf der Straße (davon träumte ja schon Schönberg), aber neue Musik kann öffentlich wohl kaum präsenter sein als in diesem Fall. Der Klang ist imposant und die Vorlagen bekommen etwas Gravitätisches, fast Sakrales. Die Aufnahme fand frühmorgens statt und einige leise Umweltgeräusche – z. B. Vogelzwitschern – sorgen für ein schönes Lokalkolorit.
Wie alle übrigen CDs, so kann auch die Nr. 100 nur direkt und gegen Vorkasse beim Stockhausen-Verlag in Kürten bestellt werden. Der Versand ist sehr zuverlässig und erfolgt in der Regel innerhalb einer Woche. Alle Informationen dazu auf der Seite des Stockhausen-Verlags
AUSBLICK
Weitere Aufnahmen stehen zur Veröffentlichung an: Das Septett GLANZ aus dem Zyklus KLANG z. B. oder das 2010 uraufgeführte STRAHLEN, eine psychedelische Version der HOCHZEITEN für CHOR aus dem SONNTAG – und zwar für Vibraphon, wobei sich die Live-Klänge eines Spielers mit den elektronisch manipulierten Klängen eines vielchörigen "Supervibraphons" mischen.
Man darf gespannt sein, was die Zukunft noch so an Nachlässen ans Licht bringt.
Georg Henkel
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