Surrealistische Hussiten: Das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera mit hierzulande selten zu hörenden tschechischen Werken
„Zukunftsmusik ostwärts“ heißt eine lockere Reihe des Altenburg-Geraer Theaters, in der ohne den früheren Zwang, sich der Musik der sozialistischen Bruderländer zu widmen, Interessantes aus dem dortigen Musikschaffen in den hiesigen Konzertsaal geholt wird. Diesmal ist Tschechien an der Reihe, passend zum Aspekt, dass dieses Land aktuell auch die EU-Ratspräsidentschaft innehat, was freilich dazu führt, dass Tomás Kafka, der tschechische Botschafter in Deutschland, zwar die Schirmherrschaft übernimmt, selbst aber aus Termingründen weder bei den beiden Aufführungen des Programms durch das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera an den Vorabenden in Gera noch bei der vom Rezensenten erlebten Aufführung am frühwinterlichen Freitagabend vor dem 2. Advent im Altenburger Theaterzelt, das aufgrund der weiteren Verzögerung der Sanierung des Theatergebäudes immer noch als Spielstätte dient, anwesend sein kann. Fünf Werke von ebensovielen tschechischen Komponisten stehen an, die beiden Solisten stammen ebenfalls aus diesem Land und der Dirigent Norbert Baxa, der normalerweise am J.K. Tyl-Theater in der Stadt des Bieres, also Pilsen, arbeitet, gleichfalls. Antonín Dvoráks Ouvertüre „Die Hussiten“ eröffnet den Abend – einst zur Eröffnung des Tschechischen Nationaltheaters in Prag anno 1883 (das Bild zeigt die Grundsteinlegung 1868) geschrieben, haben wir hier sozusagen Programmusik über ein ureigenes tschechisches Thema vor uns, wobei die Hussiten ja anno 1430 auch in Altenburg waren und hier einiges an Zerstörungen anrichteten. Ob der Komponist das wußte, sei dahingestellt, ist im Kontext dieses Abends aber eine hübsche Anekdote. Der Rezensent sitzt in Reihe 3 gegenüber des ersten Bratschenpultes, also ziemlich nahe am Orchester, und braucht längere Zeit, um sein Ohr auf die Wahrnehmung des Gesamtklanges zu eichen – Baxas gutes Händchen für Detailarbeit und Stimmungserzeugung aber ist vom ersten Ton an wahrnehmbar. Angedüsterte Holzbläserklänge, teils choralartig, führen ins Geschehen ein, das bald dramatisiert wird, wobei der sehr bewegungsdeterminiert dirigierende Baxa die festlichen Momente von Anfang an ziemlich groß anlegt und später fast in cineastische Gefilde abschweift. Exzellente Zusammenbruchsgestaltungen wechseln mit blitzenden Hymnen, und auch im Finale, einem mitreißenden Hybriden aus wilder Schärfe und hymnischer Zurückgelehntheit, finden er und das Orchester stets den richtigen Weg. Weil zwar Dvoráks Ouvertüre pünktlich fertig war, aber das geplante zugehörige Hussiten-Schauspiel von Frantisek Adolf Subert nicht, mußte zur Eröffnung des Tschechischen Nationaltheaters ein anderes dramatisches Werk gegeben werden – man entschied sich für die Oper „Libuse“ von Bedrich Smetana. Der hatte sich in den Jahrzehnten zuvor auch schon öfter mit Stoffen aus seiner tschechischen Heimat kompositorisch auseinandergesetzt – der bekannte Zyklus „Mein Vaterland“ bildet da nur die Spitze des Eisbergs. Die Sinfonische Dichtung im Programm dieses Abends gehört inhaltlich ins 17. Jahrhundert und heißt „Wallensteins Lager“, ein relativ frühes Werk Smetanas, uraufgeführt 1862 und interessanterweise 1902 bei der Einweihung des Theaters in Gera gespielt. Hier geht’s gleich in die Vollen, es herrscht ziemliches Gewusel im Lager, und selbiges auch noch im pp zu halten, ohne zu schleppen, ist keine leichte Aufgabe, wird aber an diesem Abend vom Orchester und dem übers Podest tänzelnden Baxa prima gelöst, zumal auch die Vielseitigkeit der Dramatisierung überzeugend dargeboten wird. Erstklassige Kammermusikeinwürfe wechseln mit choralartigen Posaunenthemen, und die seltsame Generalpausenstruktur überspielt Baxa nicht etwa, sondern betont sie eher noch. Ein stimmungsvolles Pizzikato-Nocturne läutet den theatralischsten Teil ein, in dem die Signaltrompeter das Lager aufzuwecken versuchen, aber auf eher unmilitärisches Gebaren stoßen – das Gros schläft einfach weiter und kommt erst spät aus den Zelten gekrabbelt. Nur die seltsame Dramatisierung des Finales will an diesem Abend nicht zünden. Während die Namen Dvorák und Smetana auch dem durchschnittlichen Konzertbesucher geläufig sind, trifft das auf Vitezslava Kaprálová definitiv nicht zu – ihre Werke finden sich nur extrem selten auf hiesigen Spielplänen. Auch das Concertino für Violine, Klarinette und Orchester op. 21 ist ziemlich obskur: 1939, ein Jahr vor dem frühen Tod der Komponistin, entstanden, wurde es erst 2002 in Hradec Kralove uraufgeführt. Die drei Sätze folgen der althergebrachten Konzertform aus zwei schnelleren Außensätzen, die einen langsameren Mittelsatz rahmen. Das Allegro energico fällt vor allem durch seine starke Höhenlastigkeit auf und ist lange Zeit von den kompositorischen Ideen her eher schwer zu durchschauen, was sich erst in der ersten Kadenz, die Violinist Milan Al-Ashhab und Klarinettist Karel Dohnal gemeinsam bestreiten, ändert – da ist auf einmal richtig Pfiff drin, wenn sich die beiden munter unterhalten. Die folgenden Orchesterpassagen weisen im Gegensatz zum bisherigen Satzteil eine große grundierte Massivität auf (was hier relativ zu verstehen ist), und der Satz endet ungewöhnlicherweise mit einer zweiten Kadenz. Das Andantino beginnt Dohnal mit weiten Linien und sehnsuchtsvollem Klarinettenton, Al-Ashhab fügt sich später in dieses Bild ein, und Baxa überläßt die Detailgestaltung komplett den beiden, was diese gern nutzen. Auch die späteren Orchesterflächen sind von Sanftmut geprägt, zumindest so weit, wie der Violinist hier nicht geplant als Störenfried agieren muß, bevor er wieder harmonielastig, wenngleich nicht harmonieselig ins Ganze eingebunden wird. Das Presto-Finale hängt nicht attacca an, das Orchester hat hier eher lockere, fast tänzerische, aber strukturell so gar nicht tanzkompatible Aufgaben, und die Solisten müssen diesmal beide die Störenfried-Rolle spielen, bevor sie wieder eingefangen werden, was den eher fragmentiert wirkenden Satz aber auch nicht wesentlich zugänglicher macht – vielleicht hätte die Komponistin, wenn ihr ein längeres Leben beschieden gewesen wäre und sie ihr Werk mal hätte hören können, hier noch irgendwas gestrafft. Daß sie ein Händchen für unkomplizierte, aber wirkungsvolle Effekte besitzt, zeigt der Schluß, wo sie eine Instrumentengruppe nach der anderen einfach aufhören läßt, was Baxa durch markantes „Abwinken“ noch hervorhebt und so ein Effekt entsteht, als ob man einem großen Orgelakkord ein Register nach dem anderen entzieht. Der Applaus des in recht übersichtlicher Kopfzahl erschienenen Publikums mutet etwas verwirrt an, ist aber trotzdem herzlich, indes nicht ausreichend, um eine Zugabe hervorzulocken, falls denn eine im Bereich des Möglichen gestanden haben sollte. In den letzten Jahren vor ihrem Tod unterhielt Vitezslava Kaprálová eine enge Beziehung zu Bohuslav Martinu, den sie im Vorfeld der 1938er Uraufführung seiner Oper „Julietta“ kennengelernt hatte. Aus selbiger extrahierte er eine dreisätzige Orchestersuite, die im Kontext der Oper teilweise als Ballettmusik fungiert. Das zugrundeliegende, 1930 entstandene Drama von Georges Neveux beschäftigt sich in surrealistischer Weise mit dem Kontrast von Traum und Wirklichkeit, was dann auch auf die Tonsprache Auswirkungen hat, die klar vom französischen Impressionismus beeinflußt ist, diesen allerdings nicht einfach kopiert, sondern eine geschickt arrangierte eigene Lesart entwickelt. Wie sich im eröffnenden Poco andante aus scheinbar zusammenhanglosen Einzelelementen über den ganzen Satz hinweg ein dramatisches Ganzes entwickelt, das zum Schluß in Uniformität mündet, ist jedenfalls ideenseitig großes Kino und wird von Baxa und dem Orchester hervorragend dargestellt. Auch im Vivo geht’s gleich wieder ins wüste Getümmel, dessen Ausweg diesmal aber spätromantische Elemente weisen, sowohl große Klanglandschaften als auch bedächtig geformte Flächen. Dabei lauert so mancher Fallstrick – aber wie natürlich anmutend die ersten Violinen das Umschalten von Normalrhythmik auf Offbeat aus den Ärmeln schütteln, stellt dem Orchester (und natürlich Baxa) ein glänzendes Zeugnis aus, das den etwas zu unentschlossenen Satzschluß locker kompensiert. Der letzte Satz, ein Lento, führt die flirrenden Streicher in düstere Welten, wobei die Finsternis aber eher hintergründig verschwimmt und das Aufbegehren wirkungslos bleibt – die Musik verliert sich immer mehr in verstrahlt anmutenden Welten bis zum ebenso seltsamen Schluß, erst anschwellend, dann mit leisen Trompetensignalen einfach aufhörend: Der Protagonist oder die Protagonistin ist scheinbar endgültig eingeschlafen – die Hörer im Zelt natürlich nicht, wobei der Applaus angesichts der eigentümlichen Klänge abermals ein wenig verwirrt anmutet. Leos Janáceks 1921 uraufgeführte Orchesterrhapsodie „Taras Bulba“, der man unter den fünf Werken dieses Abends noch am ehesten in den hiesigen Konzertprogrammen begegnet, schließt das Konzert ab – ob das inhaltlich eine glückliche Wahl war, darüber darf man lange diskutieren: Die drei Sätze nach einer Novelle von Nikolai Gogol stellen den Konflikt zwischen Polen und der Ukraine im 17. Jahrhundert (mit Erstgenannten als den Bösewichtern und Usurpatoren, wobei die polnisch-litauische Union dieser Zeit ebenso ausgeblendet wird wie alle anderen der zahlreichen Konfliktlinien in der Umgebung) dar, wobei die Freiheitskämpfer aus der Familie Bulba in jedem Satz einer weniger werden und im ersten Satz Andrej Bulba vom eigenen Vater Taras getötet wird, weil er sich in eine Polin verliebt hatte und nun auf der anderen Seite kämpft (Erinnerungen an Savatages Dead Winter Dead offenbaren eine geschicktere Lösung des Konfliktproblems). Daß es in diesem Krieg nur Verlierer gibt, dämmert hier jedenfalls keinem, auch Taras Bulba, Gogol und mit ihnen Janácek nicht, während für den heutigen Hörer schon die Satzüberschriften für einen entsprechenden Eindruck reichen: „Andrejs Tod“, „Ostaps Tod“ und schließlich „Prophezeiung und Tod Taras Bulbas“. Janácek, eigentlich eher fürs Musiktheater schaffend, erweist sich freilich in den drei Sätzen als Meister der dramatischen Gestaltung auch ohne theatralisches Element. Die holzschnittartige Entwicklung des ersten Satzes bringen Baxa und das Orchester jedenfalls erstklassig rüber, und obwohl man sich nicht so ganz im Klaren über die reichlich eingesetzten Glocken und deren konkrete Wirkung ist, versöhnt die Kombination aus lieblicher Truhenorgel und Kammermusik (mit Kontrabaßsoli – auch nicht gerade gewöhnlich) schnell wieder. Interessanterweise läßt der Komponist bei aller Dramatikgestaltung sowas wie einprägsamere Passagen, die eine Identifikation mit dem Stück ermöglichen würden, weitgehend außen vor, von den Glocken und einigen Soli des Konzertmeisters abgesehen. Das ändert sich im zweiten Satz nicht, wenngleich es hier einen Mix aus Holzschnitt und Nocturne gibt. Die Dialoge zwischen den Streichergruppen erinnern an ein Streitgespräch, die Flöten über marschierenden Celli symbolisieren eher eine Psychose, wobei aber auch Elemente spielerischer Leichtigkeit eingeflochten werden – das Finale ist aber wieder tragisch, und mit drei Orchesterschlägen verliert auch Ostap sein Leben. Der dritte Satz ist noch kleinteiliger aufgebaut, der Konflikt intensiviert sich offensichtlich, manches fasert (geplant!) aus, und düstere Ausbrüche münden in einige breite spätromantische Klanglandschaften, die von Kriegsgetümmel unterbrochen werden. Nach der paukenseitigen Erschießung beruhigt sich das Geschehen, wird klanglich immer breiter und mündet nach eigentümlicher Hinführung in einen feisten Bombastschluß. Über das zugrundeliegende Geschehen kann sich jeder seine eigenen Gedanken machen, die Leistung von Norbert Baxa und dem Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera an diesem Abend ist aber aller Ehren wert und wird dementsprechend auch mit reichlich Applaus belohnt. Roland Ludwig |
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