Ñu
Conjuros
|
|
|
Die Editionsgeschichte dieses Albums darf als zumindest reichlich ungewöhnlich bezeichnet werden. 1990 veröffentlichten Ñu eine Neun-Song-LP namens Dos Años de Destierro, die im gleichen Jahr auch als Kassettenversion erschien, dort allerdings mit anderer Songreihenfolge. 2000 kam ein Re-Release als CD heraus, mit abermals veränderter Songreihenfolge und unter dem Titel La Espada. Vier Jahre später wurden die neun Songs einem Remastering unterzogen, und das Ergebnis fand seinen Weg auf einen Silberling namens Dama De Honor, erneut mit veränderter Songreihenfolge. Anno 2019 fällt dem Rezensenten nun eine CD namens Conjuros in die Hände und entpuppt sich als im Vorjahr erschienener weiterer Re-Release mit wieder den gleichen neun Songs, aber – der Leser ahnt es bereits – erneut veränderter Songreihenfolge. Ñu-Allessammler könnten also mittlerweile die vom Remastering abgesehen identischen neun Songs mittlerweile fünfmal in der Kollektion stehen haben, und es bleibt gespannt abzuwarten, wie viele Re-Releases unter neuem Namen und neuer Songreihenfolge es noch geben wird. Bei den Albumtiteln sind nicht mehr viele Möglichkeiten offen – vier der neun Songs haben ja bereits als Titeltracks gedient, wobei der zu Dos Años De Destierro gehörende Song nur „Destierro“ heißt. Aber fünf Optionen gibt es ja noch, und bei der Songreihenfolge kommt mittels der Fakultätsrechnung sogar eine ziemlich hohe Zahl heraus ...
Bleibt natürlich die Frage, ob es sich für den Nicht-Ñu-Allessammler lohnt, wenigstens eine der Editionen zu besitzen. Diese Frage kann ohne Wenn und Aber bejaht werden, wenn man auf einfallsreichen Sound irgendwo an der Grenze zwischen Folkrock und Folkmetal mit größerer Neigung zu erstgenanntem steht. Dass Ñu keinen Nu Metal spielen, weiß auch der bisherige Nichtkenner des Bandschaffens ja schon seit dem zweiten Satz dieses Reviews, denn 1990 gab es diesen Stil noch gar nicht, und Dos Años De Destierro war zudem keineswegs das erste Album der Band – die Aktivitäten reichen bis in die Mittsiebziger zurück und wurden regelmäßig auf Alben festgehalten. „Band“ ist bei Ñu freilich ein etwas schwieriges Stichwort, denn der kreative Kopf José Carlos Molina gilt, so ist hier und da zu lesen, als etwas schwieriger Zeitgenosse, mit dem es kaum jemand länger aushält, und so umfaßt die Liste der Ex-Ñu-Musiker eine deutlich größere Zahl von Musikern, als die Band in Jahren bisher aktiv ist. Auf Dos Años De Destierro und folglich auch auf Conjuros assistierten ihm der Bassist und Backingsänger Niko del Hierro und der Gitarrist Jero Ramiro, für alles andere zeichnete Multitalent Molina selbst verantwortlich. Drummer ist er allerdings nicht, und so trommelt hier ein Computer, der soundlich indes erfreulich natürlich herüberkommt und somit den recht lebendigen Sound der Band nicht über Gebühr zu sterilisieren droht. Ansonsten kümmert sich Molina um die Keyboards – außer in der Ballade „Estrella“, wo als tastenspielender Gast Miguel Angel Collado mitwirkt – und das Flötenspiel, dem er allerdings nicht in allen Songs frönt. Zusätzlich fungiert er auch als Leadsänger und entledigt sich dieser Aufgabe mit einer halbhohen, auf Extreme verzichtenden und durchaus ausdrucksstarken Stimme, wobei gerade „Estrella“ allerdings hier und da so klingt, als habe man die Sounddateien zwischenzeitlich auf 128k komprimiert – man höre mal genau auf die letzten, eigentlich als besonders ausdrucksstark konzipierten Gesangspassagen! Zum Glück bleiben solche Unfälle Ausnahmen, und das ist auch gut so, denn der Sound der Band macht insgesamt betrachtet ziemlich viel Hörspaß, wenn man auf die besagte Mixtur steht. Dass Ñu aus den Siebzigern kommen, hört man natürlich auch anno 1990 noch durch, und bei der Flöte denkt man ebenso natürlich automatisch an Jethro Tull, aber vom durchschnittlichen Härtegrad her siedelt Conjuros deutlich über allem, was Ian Anderson je eingespielt hat. Das sehr flotte „Dama De Honor“ markiert den Tempohöhepunkt des Albums und atmet die Tugenden klassischer Rainbow-Werke, aber Molina hat auch die Einflüsse der Achtziger aufgesogen, und so tönt gleich das hier als Opener fungierende „La Espada“ wie eine folkige Version der Achtziger-Foreigner aus den Boxen, während der Stampfer „Galeras“ eine geringfügig luftigere Folkvariante von Virgin Steele oder auch den Black Sabbath der ersten Dio-Ära assoziiert. Das alles läßt sich knapp 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung immer noch mit Genuß hören, und man beginnt zu sinnieren, welchen Einfluß Ñu wohl auf die hierzulande etwas bekannter gewordenen spanischen Landsleute Mägo De Oz ausgeübt haben könnten und ob vielleicht irgendeines der Achtziger-Alben auch den Weg auf die britische Insel gefunden haben könnte, wo gewisse Herren namens Walkyier oder Ramsey es in die Hände bekommen haben könnten, wenngleich Skyclad unterm Strich komplett anders klingen als Ñu, zum einen weil sie ihre Folkaspekte eher aus der Geige als aus der Flöte ziehen, zum anderen weil Ñu zwar eine grundsätzliche Tanzbarkeit in etlichen ihrer Nummern hinterlegt haben, aber nicht explizit Tanzbodenhits der Marke „Spinning Jenny“ oder „Inequality Street“ schreiben. Das recht flotte und geradlinige „Tuboscape“ könnte trotzdem Tanzwut auf den Bühnen auslösen – der Rezensent sieht sich freilich außerstande, das zu beurteilen, denn er hat die Band noch nie live gesehen. Aber die anderen aktuellen Ñu-Alben sind alles Livemitschnitte (die letzte Studioplatte ist schon wieder fast ein Jahrzehnt alt), und so kann man sich zumindest auf diesem Weg ansatzweise einen Eindruck verschaffen, wenn es einem denn gelingt, besagte Scheiben aufzutreiben: Molina gilt auch als schwieriger Geschäftspartner, und so ist die Anzahl seiner Ex-Plattenfirmen genauso Legion wie die seiner Ex-Mitmusiker, was vielleicht auch die etwas verworrene Editionsgeschichte des hier rezensierten Albums erklärt, wenngleich die oben aufgezählten fünf Fassungen von „nur“ drei verschiedenen Firmen stammen. Kauft man Conjuros, muß man zudem ins Kalkül ziehen, dass man eine nahezu informationslose Scheibe bekommt: Die Innenseiten des vierseitigen Booklets enthalten das bereits auf dem Cover abgebildete Bandlogo und ein Foto des flötespielenden Molina, das in einem vergrößerten Ausschnitt auch noch auf dem Backcover prangt, und selbiges Backcover enthält sonst noch die Copyrightangaben und die Tracklist, welchletztere auch schon auf der Bookletrückseite abgedruckt war – ansonsten liegt die Informativität der Drucksachen dieser CD bei Null. Wenigstens offerieren die 42 Minuten Musik aber reichlich Kurzweil, und so lohnt sich der Erwerb definitiv, wenn man die magere Ausstattung verschmerzen kann. Ansonsten bleibt ja immer noch die Option, Ausschau zu halten, ob eine der vielen anderen Versionen gestalterisch vielleicht mehr bietet, und vermutlich eignen sich die anderen Achtziger- und Frühneunziger-Alben von Ñu ähnlich gut als Einstieg in den Schaffenskosmos dieser Band – zumindest bezeichnet Stefan Riermaier sie im Lexikon „Heavy Metal aus Südeuropa“ als fast ausnahmslos gleichfalls sehr hörenswert, wobei sein Favorit das 1994er Werk La Danza De Las Mil Tierras ist, „welches beinahe durchgehend Top-Songs enthält“. Wer nicht erst nach Spanien reisen möchte, kann auch auf Riermaiers Portal www.karthagorecords.de schauen, ob dort im Shop mal eines der Alben auftaucht (die hier rezensierte Scheibe ist auch von dort).
Roland Ludwig
Trackliste |
1 | La Espada | 4:44 |
2 |
Conjuros | 4:17 |
3 |
Dama De Honor | 4:35 |
4 |
Marioska | 4:19 |
5 |
Estrella | 3:28 |
6 |
Destierro | 4:29 |
7 |
Galeras | 6:39 |
8 |
Tuboscape | 5:09 |
9 |
Arrasando Madrid | 4:22 |
|
|
|
|
|
Besetzung |
José Carlos Molina (Voc, Keys, Flute, Drum Programming)
Jero Ramiro (Git)
Niko del Hierro (B)
|
|
|
|