Ives, Ch. (Tilson Thomas, M.)

Sinfonien Nr. 3 & 4


Info
Musikrichtung: Klassische Moderne Orchester

VÖ: 08.11.2019

(San Francisco Symphony / SACD hybrid / 2017 / Best. Nr. SFS 0076)

Gesamtspielzeit: 68:53



EINGÄNGIG AVANTGARDISTISCH

Michael Tilson Thomas' Einspielung der Sinfonien von Charles Ives, die in 1980er Jahren beim Label Sony erschienen sind, gelten trotz der etwas bescheidenen digitalen Klangqualität nach wie vor als Referenz. Seitdem sind freilich von allen fünf Sinfonien herausragende Neuproduktionen veröffentlich worden: neben der Naxos-Reihe mit James Sinclair z. B. die Serie unter Andrew Davis und dem Melbourne Symphony Orchestra, die Aufnahmen des Seattle Symphony Orchestra unter Ludovic Morlot oder des Dallas Symphony Orchestra unter Andrew Litton.

Aber auch Tilson Thomas ist im Laufe der Jahre immer wieder zu dem für ihn bedeutendsten amerikanischen Komponisten zurückgekehrt. Eine "Ives-Journey" mit einem großen Querschnitt durch das Lied- und Orchesterschaffen Ives' gehört zu den - aktuell leider vergriffenen - Höhepunkten des Katalogs. Unter Tilson Thomas haben sich die hier zu hörenden Ensembles, der San Francisco Symphony Chorus und das San Francisco Symphony Orchestra, zu herausragenden Ivesianern entwickelt, wie die 2009 auf dem hauseigenen SFS-Label erschienene Einspielung der "Holidays Symphony" demonstriert.
Und so ist es sehr erfreulich, dass dieses Gespann sich jetzt auch noch einmal die 3. und 4. Sinfonie von Ives vorgenommen hat, und von beiden Werken, das sei gleich vorab gesagt, eine musikalisch und klanglich vorzügliche Darbietung vorlegen.

Ives 3. Sinfonie stellt den Höhepunkt seines "kumulativen" Stils dar, bei dem er in den drei Sätzen ein dicht gewobenes Netz aus alten amerikanischen Liedern und Kirchenchorälen ausbreitet, die musikalische Bilder aus Ives Kindheit und Jugend in der Gegend Neuenglands heraufbeschwören: eine ländliche, religiös und spirituell geprägte Welt, mit "Camp Meetings", Predigten, Gemeindepicknicks, Kinderspielen.
Aufgrund der eingängigen thematischen Materialien, die man sofort im Ohr hat, ist der Einstieg in diese Musik an der Oberfläche leicht, aber die komplexe Verarbeitung macht es nicht unbedingt einfach, dem Verlauf zu folgen. So kann es schnell passieren, dass die Musik vorbeizieht, ohne dass man wirklich "mitgeht". Hier sind vor allem die Interpreten gefordert, durch eine transparente, flüssige und zugleich deutlich strukturierende, artikulierte Darbietung den vielschichtigen Satz zu vergegenwärtigen, so dass Eingängigkeit und Avanciertheit gleichermaßen zu ihrem Recht kommen. Genau dies gelingt Tilson Thomas und seinem Orchester auf vorbildliche Weise. Unter den aktuellen Einspielungen der 3. Sinfonie dürfte es kaum eine andere geben, die so mühelos, organisch, folgerichtig, in sich stimmig und zugleich verbindlich und tief empfunden klingt. Die Quadratur des Kreises, wenn man so will.

Der Quantensprung zu Ives Hauptwerk, der 4. Sinfonie, gelingt dann ebenso überzeugend. Denn hier verwirklicht Ives in rund 30 Minuten eine Komplexität und Tiefe, die einzigartig in seinem Schaffen und in der Sinfonik überhaupt ist. Die "überwältigende Frage" (T. S. Eliott) nach dem Woher, Wozu und Wohin des Lebens wird in den vier Sätzen gestellt und auf unterschiedliche Weise beantwortet. Das Elegisch-Romantische< ebenso wie das Grell-Modernistische werden unter einem großen Bogen vereint, stehen nebeneinander oder ereignen sich gleichzeitig. Wieder sind es v. a. amerikanische Märsche und Choräle, aber auch Unterhaltungsmusik, die hier miteinander und gegeneinander spielen, marschieren, kollidieren.
Der 2. Satz treibt es zirkusbunt, die Welt als Komödie, als rasender Rummelplatz, in dem man buchstäblich untergehen kann. 3. Satz bringt eine scheinbar konventionelle, dann aber sich ins virtuell Endlose verlaufende Fuge ins Spiel. Diese wirkt fast schon wie ein akademischer Fremdkörper (er symbolisiert die ehrwürdige, aber eben auch begrenzte Antwort der Religion).
Im 4. Satz werden alle Kräfte zusammengeführt und winden sich empor zu einem Finale, das dann gar nicht mehr monumental dröhnt, sondern in den zarten Vokalisen des Chores verklingt.

Die Intpreten bleiben der Musik nichts schuldig, sowohl was die extremen musikalischen Zusammenballungen wie auch die zarten und lyrischen Momente angeht. Dazu kommt ein warmes, ausgewogenes Klangbild, das zugleich detailgenau und gut durchhörbar ist. Tilson Thomas lässt sich eine Moment mehr Zeit als manche Kollegen, eben so viel, wie nötig ist, um die Spannungsbögen auszukosten. Er spielt immer noch mit in der Liga der ersten Ives-Interpreten!

Der San Francisco Symphony Chorus steuert noch eine Auswahl jener Kirchenchoräle bei, die Ives in seine Sinfonien eingebaut hat. So bekommt man nicht nur einige akustische Wegweiser, sondern schöne Eindrücke jener geistig-religiösen Welt, aus der Ives seine Inspirationen geschöpft hat, der er als Kirchenorganist in jungen Jahren verbunden war, aus der er dann aber auch zumindest musikalisch ausgebrochen ist.



Georg Henkel



Besetzung

Peter Dugan (Klavier)
San Francisco Symphony Chorus
San Francisco Symphony Orchestra

Michael Tilson Thomas, Leitung


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