Ich und Du sind krank: Das Gewandhausorchester spielt Wagner, Gubaidulina und Bruckner
Die in jüngerer Vergangenheit im Gewandhaus bereits mehrfach praktizierte Kombination aus Werken Richard Wagners und Anton Bruckners findet in den Grossen Concerten der ersten Dezemberwoche 2019 eine Fortsetzung, aber in ergänzter Form. Auftaktstück ist trotzdem eines von Wagner, nämlich das Vorspiel zur Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“ WWV 96, das wie viele ähnliche Werke auch ein Eigenleben als Konzertstück führt, in diesem Falle ein dankbares, denn da kommt aus dem Blech ja gleich ein markantes Thema geflogen, das auch der Nicht-Operngänger im Ohr haben und behalten kann. Erstaunlicherweise entfalten die Blechbläser des Gewandhausorchesters aber hier keineswegs von Anfang an große Strahlkraft, und auch das spätere kammermusikalische Geflecht braucht ein wenig, bis Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons alle Fäden entwirrt hat. Dann aber präsentieren sich vor allem die frechen Holzbläser in bester Spiellaune, der Dramatikfaktor paßt auch, im Tutti macht Nelsons, wie das bei ihm Usus ist, auch die „Untervegetation“ des Orchesters transparent und nimmt in Kauf, dass der Monumentalitätsfaktor etwas leidet, eben wegen dieser Transparenz und obwohl aus den Blechbläsern jetzt doch mehr Strahlkraft kommt. Feierlichkeit bleibt aber trotzdem kein Fremdwort, wie das Finale des Stückes beweist – interessant zu verfolgen bleibt allerdings, wie Nelsons es in den letzten Tönen eher in einem angedeuteten Nichts versenkt, anstatt den Triumph komplett durchzuspielen. Sofia Gubaidulina zählt ohne Zweifel zu den profiliertesten Komponistinnen der Gegenwart und ist mit ihrem Schaffen auch im Gewandhaus längst heimisch, zumal sich die Komponistin tatarischer Herkunft einer lediglich gemäßigt modernen Tonsprache befleißigt und damit dem Interesse des typischen Gewandhauspublikums, das gar zu heftigen tonalen Experimenten eher skeptisch gegenüberzustehen pflegt, durchaus entgegenkommt. Ihr 3. Konzert für Violine und Orchester hat sie für Vadim Repin (Foto) geschrieben, einen der führenden Violinisten der Gegenwart, den der Rezensent anno 2009 mit einer völlig atemberaubenden Aufführung des Tschaikowski-Violinkonzertes in der Dresdner Semperoper erlebt hat (siehe Rezension auf www.crossover-netzwerk.de) und der Gubaidulinas Werk 2018 in Nowosibirsk uraufgeführt hat. Repin spielt an diesem Abend nun auch die deutsche Erstaufführung des Konzertes mit dem Untertitel „Dialog – Ich und Du“. Das eröffnet interessante Perspektiven, schließlich ist der Dialog zwischen dem Solisten und dem Orchester ja ein zentrales Thema der Gattung Solokonzert, auch wenn „concertare“ eigentlich „wetteifern“ bedeutet und es in dieser Deutung eher auf einen Wettstreit denn auf ein Miteinander ankommt. Lange braucht der Hörer in diesem einsätzigen Werk dann auch nicht zu warten: Repin versucht zunächst mit verschiedenen Spielern des Schlagwerkes in akustischen Kontakt zu treten, wird aber von der Großen Trommel förmlich niedergeprügelt, so dass der Violinist mit klagendem Ton resigniert und den Umweg über andere Instrumentengruppen sucht, was dann zu großen Dramatisierungen bis hin zu Glockenanschlägen führt. Eher jenseitig anmutende Celestaklänge mischen sich ebenso in die Dialogversuche wie völlig irrationales Triangel-Geklirr, und es wird schnell klar, dass die Versuche jeweils auf unterschiedlichem Level scheitern. Andris Nelsons‘ Aufgabe ist in diesem Kontext keine leichte, da er ja praktisch das Scheitern des Kommunikationsexperiments verwalten muß, und das kreuz und quer über Stilgrenzen hinweg bis hin zu dancefloorkompatiblen Rhythmen mit markantem Beckenschlag auf der 2, auch wenn Gubaidulina sich vom Dancefloor nachvollziehbarerweise vermutlich konsequent ferngehalten hat. Eine enorme Düsterspannung baut sich in der Hinführung auf die große Tuttikatastrophe auf, die in einem Solo der Großen Trommel mündet, das in seiner Prügelintensität noch deutlich über die Einleitung hinausgeht und nur mit seiner Verlangsamung bis zum Stillstand noch Anflüge von Hoffnung aufkommen läßt, der Kommunikationsfaden sei vielleicht doch noch nicht zerrissen. Dass der Blechbläserchoral extrem angestrengt beginnt und erst schrittweise frei zu atmen beginnt, könnte als diesbezügliches Signal aufgefaßt werden, aber kurioserweise kehrt der Soloviolinist nun den Spieß um und spielt den ganzen Schlußteil über einen einzigen leisen hohen Ton, egal was die anderen Orchestermusiker machen, damit seinerseits alle Kommunikationsversuche einstellend. Es bleibt also nach 20 Minuten beim „Ich und Du“ – das „Wir“ kommt nicht zustande, und das erscheint auch in gewisser Weise logisch, bedenkt man den streng religiösen Hintergrund der Komponistin, selbst wenn sie sich mit Erläuterungen zu ihrem Werk sehr zurückhält und der Rezensent auch Martin Bubers Buch „Ich und Du“ nicht gelesen hat, das den roten Faden der Analyse im Programmheft liefert und für Gubaidulina eine sehr wichtige Rolle spielt. Wir hören freilich nicht den alttestamentarischen Gott, der sich bewußt von den Menschen abhebt und von vornherein gar kein Wir mit ihnen will, sondern den neutestamentarischen Gott, der das Wir anstrebt, dem Menschen aber seinen Willen läßt, ob dieser das auch möchte, was zu mannigfachen Mißverständnissen führt. So steht am Ende konsequenterweise wieder das Nichts, in dem das Stück verebbt, und obwohl die Husterquote im Publikum unerquicklich hoch ist, kann die Schlußspannung doch gehalten werden. Im Programmheft wurde noch orakelt, dass niemand wisse, ob die mittlerweile 88jährige und zurückgezogen in der Nähe von Hamburg lebende Gubaidulina wirklich zum Konzert kommen würde – sie ist tatsächlich da, kommt auch auf die Bühne und nimmt gerührt den reichhaltigen Applaus der Leipziger entgegen: Drei Vorhänge für eine deutsche Erstaufführung eines Stückes der allerjüngsten Vergangenheit sind angesichts der eingangs geschilderten Situation sehr achtbar, und der Rezensent freut sich, dass Repin angesichts der speziellen Stimmung während der Applausphase klugerweise darauf verzichtet, eine Zugabe zu spielen, um ebenjene Stimmung nicht zu zerstören. Anton Bruckners Sinfonie Nr. 2 c-Moll WAB 102 trägt den Beinamen „Pausensinfonie“, weil der Komponist hier oft stark blockweise und mit zahlreichen Generalpausen arbeitet, sowohl in der Erstfassung von 1872 als auch in der Zweitfassung von 1877. Herbert Blomstedt, Ehrendirigent des Gewandhausorchesters, hatte die Erstfassung bevorzugt und ebenjene auch anno 2012 als Abschluß seines Bruckner-Sinfonie-Zyklus eingespielt – Andris Nelsons widmet sich nun der Zweitfassung, steht aber prinzipiell vor der gleichen Aufgabe wie Blomstedt: Die Pausen machen das Spannen eines großen Bogens schwierig – was also tun? Blomstedt begriff sie als zusätzliches Gestaltungsmittel und paßte zugleich ihre Längen den jeweiligen akustischen Verhältnissen an, wie der Rezensent beim von ihm geleiteten Konzert der Bamberger Philharmoniker in der Dresdner Frauenkirche im Juni 2010 (siehe Rezension auf www.crossover-netzwerk.de) beeindruckt miterleben durfte, wo die Längenvariabilität die Gestaltungsmöglichkeiten noch einmal markant erhöhte. Das geht im Gewandhaus, weit entfernt von jenen sechs Sekunden Nachhall der Frauenkirche, die sonst eher die Gefahr von Klangmulm erhöhen, selbstverständlich nicht – aber Nelsons ist natürlich geschickt genug, auch hier alles zu tun, was sich als logische Gestaltungsmöglichkeit anbietet, und man braucht im Moderato-Eröffnungssatz nur bis zur ersten Generalpause zu warten, um festzustellen, dass der Dirigent diese hier geradezu lustvoll ausspielt und förmlich spreizt, was er aber durchaus nicht bei jeder anderen Gelegenheit tut. In der Einleitung zieht er seinen Streichern in der typischen rechtwinkligen Körperhaltung die Töne wieder förmlich aus dem Instrument und nimmt das Grundtempo recht zügig. Im Seitenthema schwingen die Streicher sehr lieblich, die Tutti gestaltet der Dirigent abermals sehr transparent, und er hat so viel Vertrauen zu seinen Musikern, dass er etwa die Celli auch mal ohne Dirigat Tempo machen läßt. Einen Wackler im Solohorn machen zauberhafte Holzbläser schnell wieder wett, und nur die Husterfraktion stört das Geschehen mal wieder nachhaltig: So mancher versucht zwar, nur in den Tuttipassagen zu husten, aber da so manches Tutti plötzlich in eine Generalpause mündet, ist diese „Strategie“ riskant, und gerade das schöne Fagottsolo, das zum Schlußtriumph dieses Satzes führt, leidet unter den Störgeräuschen ganz markant, so dass man sich unwillkürlich an Loriots Sketchklassiker „Hustensymphonie“ erinnert fühlt, und das ist in diesem Zusammenhang allenfalls Galgenhumor. In der Erstfassung stand das Adagio an dritter Satzposition, in der Zweitfassung verschob Bruckner es an die zweite und benannte es zudem in Andante um, eine nicht ganz so feierlich-düstere Stimmung anstrebend. Trotzdem bedarf es einer Grundspannung im Aufbau, und die ist schwer herzustellen, wenn ein lauter Räusperer quasi nur Millisekunden vor dem ersten Orchesterton erklingt. Nelsons bricht nicht ab, sondern zieht durch und bekommt eine zwar nicht entrückte, aber trotzdem richtig schöne Stimmung hin, zumal er auch hier wieder an seinen Musikern „zieht“, ganz vorn am Pultrand stehend. Trotz aller Klasse macht sich aber Nervosität breit und erhöht den Grad von Spielungenauigkeiten, so lehrbuchreif Nelsons die Dynamikwelten auch durchschreitet. Hier holen folglich die Einzelleistungen die Kastanien aus dem Feuer: das teilweise phantastische Solohorn, das wunderbare Gestreichel der Kontrabässe oder der immense Drive, den die gleichen eben noch streichelnden Instrumente in der großen Steigerung entfalten. Dass der theoretisch zauberhafte Schluß mal wieder verhustet wird, stand freilich zu befürchten und tritt auch ein. Das Scherzo nimmt Nelsons zunächst im wild herausfahrenden Gestus – es dürfte aber zu weit führen, ihm hier etwa Ärger über die Unruhe als diesbezügliche Triebkraft zu unterstellen, denn der Gesamtgestus liegt hier in einer Art gelassener Eleganz, sowohl in den Außenteilen als auch im Trio, und an dessen Ende schießt die Repriseneinleitung nochmal genauso muränenartig nach vorn wie zu Satzbeginn, den Überraschungsfaktor so mancher Generalpause noch übertreffend. Aus der Reprise ist die Spannung aber irgendwie völlig raus, wenngleich Nelsons zumindest noch einen knackigen Schluß dranzaubert. Die Unruhe hinterläßt auch im Finale Wirkung: Der Beginn erscheint übernervös, auch die Tutti bleiben zunächst noch zu unscharf, und der Dirigent braucht eine Weile, bevor er mit behutsamer Aufbauarbeit wieder Ruhe ins Geschehen bekommt. Dass und wie er das tut, spricht für seine Klasse, zumal er gerade in diesem Satz noch vor der völlig undankbaren Aufgabe steht, diesem riesigen pausendurchklüfteten Klotz eine gangbare Linie abzuringen. Entwicklungen nachzuzeichnen geht hier also nicht, die Generalpausen als Gestaltungsmittel zu nutzen aber schon, und diese Tugend beherrscht Nelsons in ähnlicher Weise wie Blomstedt, wobei der Lette die Pausen gerne scharf anspielen läßt, was er sich in der Akustik des Gewandhauses natürlich auch erlauben kann. Wenn dann noch die Tiefstreicher kongenial sägen, vergißt man auch, dass sich die hier und da angepeilte Entrücktheit wegen des Krankenstandes auf den Rängen mal wieder nicht erreichen läßt – wenigstens verhustet keiner die zauberhafte Holzkammermusik. Wenn Bruckner dann doch mal eine große dynamische Linie zuläßt wie in der großen Zentralsteigerung, dann ergreift Nelsons diese Gelegenheit natürlich gerne und bleibt in der Dynamik lange auf überschaubarem Niveau, erst zum Satzschluß einen (freilich nicht sonderlich hohen) Gipfel erklimmend. Der Applaus bricht schon los, bevor der Dirigent die Arme senken kann, aber der letzte Enthusiasmus will sich nicht einstellen. Dem Aufnahmeteam (und natürlich auch allen anderen Beteiligten) bleibt zu wünschen, dass die beiden Folgeaufführungen am 6. und 8.12., die zusammen mit der des hier rezensierten Abends das Material für eine CD abgeben sollen, weniger störgeräuschintensiv ausfallen. Roland Ludwig |
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