Die Wandlung der Nivellierung: MDR-Sinfonieorchester und MDR-Rundfunkchor spielen Mahlers Zweite
Gustav Mahlers 2. Sinfonie c-Moll eignet sich in bestimmten Konstellationen besonders gut zu Eröffnungsanlässen: Nicht nur dass sie den Beinamen „Auferstehungssinfonie“ führt und somit den Beginn von etwas Neuem symbolisiert, sie bietet zugleich einer Institution, die sowohl über ein Sinfonieorchester als auch über einen Chor verfügt, eine gute Möglichkeit, deren Stärken gebündelt auszuspielen. Der MDR ist solch eine Institution, und so verwundert es nicht, dass besagte Sinfonie im Eröffnungskonzert der Saison 2018/19 auf dem Programm steht. Was die Leipziger momentan nicht haben, ist nach Kristjan Järvis Weggang ein fester Orchesterdirigent, aber da gibt es ja noch den Chordirigenten Risto Joost, der natürlich auch chorsinfonisches Repertoire pflegt und folgerichtig die Leitung dieses Eröffnungskonzertes im Leipziger Gewandhaus übernimmt. Die Sinfonie besitzt theoretisch auch alleine konzertfüllende Länge, aber bisweilen wird sie programmatisch mit weiteren Werken gekoppelt, und letzteres geschieht auch an diesem Abend, und zwar in origineller Form: Dem chorsinfonischen Koloß vorgeschaltet wird „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eines von Mahlers späten Rückert-Liedern, allerdings nicht in der Urform, sondern in einem Arrangement für Chor a cappella, das Clytus Gottwald angefertigt hat – das Programmheft sagt, nach einer Aufführung von György Ligetis „Lux aeterna“. Erstaunlicherweise hört man von dieser Einflußlinie aber gar nicht so sehr viel – das Gros der Einfälle hätte auch dem späten Mahler schon kommen können. Der Meerblau tragende MDR-Rundfunkchor, bekanntlich zu den Allerbesten seiner Zunft gehörend, hat im zauberhaften Pianissimo zunächst mit der Geräuschquote aus dem Publikum zu kämpfen, aber irgendwann breitet sich eine gigantische Ruhe aus, die den gleichfalls äußerst ruhigen Entwicklungen des Chorklangs sehr nützlich ist. Die Chorherren wissen dabei mit ihrem großen, sehr sicher wirkenden Spektrum zu überzeugen, die Soprane versehen einige Höhen mit einer Art „kräftigem Äther“, und Chorsopranistin Kerstin Klein-Koyuncu, die ein als Vokalise ausgebildetes Solo übernimmt, braucht ein wenig, bis sie zur gewünschten Leichtigkeit findet, leistet aber nach diesem Findungsprozeß gleichfalls Großartiges. Und trotz der starken Piano-Dominanz und dem dadurch eingeschränkten Dynamikspektrum legt Dirigent Joost eine erstklassige Route durch das Stück, die nicht nur, aber besonders im Finale für etlichen Spannungsaufbau sorgt ... ... der mit dem Ansetzen der Instrumente durch die Orchestermusiker einen weiteren Schritt geht: Der erste Sinfoniesatz „Allegro maestoso. Mit durchaus ernstem und feierlichem Ausdruck“ hängt gleich attacca am Chorwerk. Der harmonielastige Eindruck des ersten Stückes hallt allerdings noch weit in die Sinfonie hinein, und Joost fährt lange Zeit eine eher auf Nivellierung und Ausgleich bedachte Strategie als eine der Konfrontation. Das geht gleich im nicht sonderlich extrem akzentuierten Orchesterbeginn los, das markante absteigende Motiv erinnert eher an eine Kleckerburg als an Felsgestein, und das Seitenthema nähert sich seinerseits dem Hauptthema an und gibt dafür etwas von seiner Lieblichkeit her. Joost hält das Tempo überschaubar, entwickelt aber unterschwellig einen recht starken Zug zum Tor, legt bereits einige Entrücktheit in den lieblichen Klangwald, und es ist hochinteressant zu beobachten, wie er mal allmählich, mal aber auch recht plötzlich die Grenzen immer weiter nach außen verschiebt, von der Nivellierungsstrategie mehr und mehr abweicht und statt dessen größere Konflikte austragen läßt. Die gewisse Unordnung vor dem zweiten großen Ausbruch stört dabei wenig, zumal dieser dann kompetent gespielt wird und quasi den zentralen Wendepunkt des akustischen Geschehens an diesem Abend markiert: mehr Zug, mehr Tempo, mehr Entschlossenheit, mehr Volumen und summa summarum mehr Extremität. Das reicht selbst in Details wie die wirklich extrem lange nachhallenden Gongs, das nahezu militärisch anmutende Gesäge und natürlich auch den exzellent gemeisterten großen Zusammenbruch, während das Solohorn in den blühenden Klanglandschaften ein wenig Anlaufzeit braucht, um zum gewünschten butterweichen Klang zu finden. Der Trauermarsch gerät mehr als hintergründig, und die Wiederkehr der markanten absteigenden Linie schlägt den Bogen um den Satz, indem sie nochmal die wenig ausgeprägte Schärfe des Anfangs reminisziert. Der erste Satz dieser Sinfonie führt bekanntlich als „Totenfeier“ auch ein Eigenleben, und Mahler wünschte sich mindestens fünf Minuten Pause vor dem zweiten. Diesen Wunsch bekommt er an diesem Abend nicht erfüllt, was in einer Rundfunk-Liveübertragung allerdings auch strukturell schwierig überbrückbar wäre. Nach etwa einer Minute symbolischer Pause setzt Joost also bereits zum „Andante moderato. Sehr gemächlich“ an, das er recht lieblich spielen läßt, aber die klanglichen Maulwurfshügel auf der Blumenwiese durchaus nicht plattwalzt oder auch nur übersieht. Dafür verzichtet er weitestgehend auf Ironie und läßt den schönen Ausdruck einfach so im Raum stehen, wodurch sich der Ausbruch recht plötzlich und voluminöser als erwartet vollzieht. Im Übergang zum großen Zupfpart liegt einiges an Spannung, selbiger gelingt schön flüssig, und die dann wieder erzeugte Spannung muß sich gegen einen einzelnen, ohrenscheinlich vor dem Erstickungstod stehenden Huster bewahren. Da ist selbst die etwas plötzlich erscheinende Pauke im „In ruhig fließender Bewegung“ überschriebenen Scherzo vergleichsweise richtig flüssig, während der richtige Fluß etwas länger braucht, dann indes mit seinem durchaus flotten, aber nicht überhasteten Tempo durchaus die Intentionen des Komponisten treffen dürfte. Joost legt eine gekonnte Dynamiklinie in das lange Geplänkel und setzt den großen Ausbruch schon recht heftig an. Die höheren Trümpfe besitzt aber trotzdem der „Urlicht“-Satz – eigentlich müßte man im Singular reden bzw. schreiben: Altistin Gerhild Romberger gehört zu den Weltbesten, die man für diese Partie finden kann, und nach diesem Abend weiß auch der Nichtkundige, warum das so ist. Dass das Blech den Einsatz versägt und im Choral wackelt, stört das Bild kaum, das Romberger mit einer sehr emotionalen Leistung zu malen beginnt, und Joost nimmt das Orchester so weit zurück, dass sie so viel Gestaltungsspielraum erhält wie sonst kaum mal eine Kollegin in diesem Satz. Sie dankt es ihm und uns mit einem wirklich betörenden Vokal-Englischhorn-Duett, bleibt selbst dann noch hochintensiv, als das Orchester im Satzverlauf doch ein wenig voluminöser agiert, und die Leichtigkeit in den Höhen des Satzschlusses verrät die absolute Könnerin und erzeugt natürlich auch etliches an Spannung. „Wild herausfahrend“ wünscht sich Mahler den „Im Tempo des Scherzos“ zu spielenden letzten Satz, und der eröffnende Ausbruch besitzt auch tatsächlich einiges Niedermähpotential, wird allerdings gekonnt zurückgeführt und gelangt regel- wie planmäßig gelegentlich bis zum Stillstand. Nicht alle Fernhorn-Koordinationen klappen mit allerletzter Sicherheit, auch der Tiefblechchoral wirkt zu unruhig, aber das machen diverse brillante Steigerungsmomente mehr als wett – der Chordirigent besitzt offensichtlich auch ein sehr gutes Händchen für die Schichtung großer Orchestermassen. Joost hält das lange wilde Treiben sehr weit oben, ohne an Volumen wie Intensität nachzugeben, legt exzellent inszenierte Klangzusammenbrüche hin, auch wenn die Stille durch ein technisch bedingtes Geräusch ihre Spannung komplett einbüßt, und arbeitet im Fernorchester speziell das rhythmische Element stark heraus. Danach darf der Chor wieder beweisen, warum er zu den Allerbesten seines Fachs zählt: Die Pianissimo-Einsätze, die eine enorme Spannung erzeugen, hört man auch in einem hochkarätigen Musentempel wie dem Gewandhaus nicht oft in dieser Qualität. Sopranistin Katharina Konradi löst die undankbare Aufgabe, sich in diesem Chorfinale behaupten zu müssen, achtbar, soweit man sie hören kann, selbst wenn es ein Tick Vibrato weniger vielleicht auch getan hätte, und das, was man von Gerhild Romberger durchhören kann, erfüllt wieder enorm hohe Erwartungen. Der emotional packende Aspekt der finalen Auferstehung kommt in puncto Schweißausbrüchen und Atemnot beim angespannt lauschenden Zuschauer nicht ganz so intensiv zum Vorschein wie am 17.5.2011 am gleichen Ort bei Riccardo Chailly und dem Gewandhausorchester (siehe Rezension auf www.crossover-netzwerk.de), aber es fehlt nur wenig an diesem Niveau, und das ist als großes Kompliment zu verstehen. Positiverweise brüllt auch niemand Bravi in die lange Applauspausenspannung hinein, bevor sich dann lauter Jubel ausbreitet und der Chor verdientermaßen den lautesten bekommt. Ein Auftakt fast nach Maß – so kann die Saison gern weitergehen. Roland Ludwig |
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