Mitja IV: Varèse, Beethoven und Schostakowitsch mit dem Gewandhausorchester
Hatte gerade eine Woche zuvor Martin Grubinger mit zwei Schlagzeugkonzerten im Gewandhaus große Begeisterung beim Publikum ausgelöst, da steht die normalerweise hintere Reihe der Musiker abermals im Vordergrund des Geschehens, und wieder findet sich im Programm auch ein Schostakowitsch-Werk, so dass dieses Konzert das vierte der ungewöhnlichen „Mitja“-Schostakowitsch-„Reihe“ des Rezensenten im Spätherbst 2017 bildet. Hier geht’s zu den Rezensionen zu Mitja I, Mitja II und Mitja III. Nun sind Schlagzeug-Solowerke kompositorisch überwiegend jüngeren Datums – was an diesem Abend erklingt, stellt sozusagen die Urmutter dieses Genres dar: Ionisation von Edgard Varèse, uraufgeführt anno 1933 in New York. Die Besetzung besteht nahezu ausschließlich aus 13 Schlagzeugern, welchselbige 42 verschiedene Instrumente bedienen (das Programmheft zählt alle auf, vom Paarbecken über zwei Kuhglocken und – Achtung – Löwengebrüll bis hin zum Gong), wozu ansonsten nur noch ein Klavier tritt, und selbst dieses wird eher perkussiv denn melodisch zum Einsatz gebracht. Die 13 Spieler verteilen sich auf der vorderen Bühnenhälfte, und der Hörer ist überrascht, lange Zeit eine Art durchgehaltenen Grundbeat zu hören zu glauben, obwohl keiner diesen wirklich spielt. Dass Varèses Ziel nicht die totale Dekonstruktion der orchestralen Strukturen war, zeigt sich darin, dass phasenweise ein fast konventionell zu nennender Vorwärtsbeat tatsächlich vorhanden ist und die klassischen Dramatikelemente dem Komponisten reizvoll genug erscheinen, dass er sie zum Einsatz bringt und nicht auf dem Altar des Fortschritts opfert. Die Gongs dominieren viele Passagen, aber die beiden Sirenen üben trotz eher hintergründiger Arbeit eine fast noch markantere Wirkung aus. Das Finale der Komposition bildet ein abermals von den Gongs, aber auch von den Glocken und dem hinzutretenden Klavier geprägter Bombastschluß typischer spätromantischer Bauart, nur eben mit abweichenden instrumentalen Mitteln, der dann rasch abflaut und einem schnellen, aber durchaus spannenden Ausklang Platz macht. Dirigent Lionel Bringuier und die Spieler bekommen sogar zwei Vorhänge, was für Neue Musik im Gewandhaus schon als großer Erfolg gewertet werden darf, und es schließt sich ein Kuriosum an: In der folgenden Umbaupause (in der das Klavier einfach nur beiseitegerollt wird und aus den Tiefen ein anderer Konzertflügel für das nun Folgende emporsteigt, nachdem die 42 Schlaginstrumente alle weggeräumt worden sind) hätte man John Cages 4‘33 zweimal spielen können – die Pause dauert deutlich länger als das Varèse-Stück selbst, das es auf etwa sechs Minuten gebracht hat. Das Folgende ist Beethovens 4. Konzert für Klavier und Orchester G-Dur op. 58 – eine zwischen Varèse und Schostakowitsch ungewöhnlich anmutende Wahl, allerdings zu seiner Entstehungszeit strukturell ähnlich ungewöhnlich wie die beiden anderen Werke des Abends, erläutert Ann-Katrin Zimmermann im Programmheft. Als Solistin kommt eine Blondine auf die Bühne, die irgendwie völlig anders aussieht als die in der Programmheftbiographie abgebildete Person – aber es ist wirklich Hélène Grimaud. Die hat erstmal das Problem, dass ihr jemand gleich in ihren planmäßig verträumten Piano-Auftakt hineinhustet – und aus ist’s mit der angestrebten Entrücktheit. Die lange Orchestereinleitung dieses Allegro-moderato-Satzes atmet zwar Sicherheit, aber keine Eleganz, und es dauert eine ganze Weile, bis sich die Beteiligten über das hinausbegeben, was in den Noten steht. Die gekonnte Feindialogik Grimauds mit dem Holz weist in die richtige Richtung, das Gesamtbild bekommt weichere Töne, die Leichtfüßigkeit nimmt zu, und die Solistin spielt sich hörbar frei, was auch auf das gelegentlich geforderte garstige Galoppieren zutrifft. Bringuier läßt das Orchester die zu den diversen Klaviersoli hinführenden Passagen sehr akzentuiert nehmen, vielleicht einen Tick zu akzentuiert, aber Grimaud konterkariert das mit enorm flüssigem Spiel – den Mix aus Flirren und Gestreichel im Finale der Kadenz muß ihr erstmal jemand nachmachen. Das Andante con moto bietet zunächst eine Kontrastwirkung: Bringuier nimmt das Orchester noch fragmentierter als im ersten Satz, Grimaud antwortet mit enorm weichem Spiel, legt einen völlig natürlich wirkenden Stimmungswechsel hin und gerät letztlich in immer entrücktere Welten, in denen auch die hochgradig irdischen Karzinomchöre bei der Spannungserzeugung und -auslebung nicht mehr entscheidend stören. Das Rondo-Vivace hängt wie üblich attacca an und erlaubt zunächst die Feststellung, dass der Kontrast aus Orchesterpower und entrückten Momenten hier organischer strukturiert wirkt als im zweiten Satz, was freilich schon vom Komponisten so konzipiert worden ist. Bringuier darf sich das Verdienst ans Revers heften, das Orchester so auszubalancieren, dass das Klavier nur extrem selten mal ins akustische Hintertreffen gerät (eine Herkulesaufgabe, an der schon enorm viele gescheitert sind), und er wählt ein zügiges, aber nicht überhastet wirkendes Tempo. In der Kadenz wechselt Grimaud dann überraschend die Rolle und reißt selbst Gräben auf (wofür bisher das Orchester verantwortlich war), füllt diese allerdings auch selbst wieder. Der Schluß freilich bringt noch ein Kuriosum: Plötzlich ist die Unruhe vom Beginn des ersten Satzes ungeplant wieder da. Das hindert das Publikum indes nicht, sofort in Jubel auszubrechen, zumal Grimaud noch fast in den Schlußton hinein aufspringt und sich letztlich auch zu einer Zugabe überreden läßt. Dmitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54 führt im Konzertbetrieb ein gewisses Schattendasein, sozusagen eingeklemmt zwischen zwei übermächtigen Werken: der Fünften und der Siebenten (der „Leningrader“), beide sehr markant gestaltet, im Schaffenskontext des Komponisten strukturell hochwichtig und relativ häufig live zu hören. Dass dazwischen noch eine Sechste lagert, ist zwar mathematisch logisch, gerät aber gern aus dem Blickfeld, zumal deren Struktur eher kurios anmutet: Mit etwa einer halben Stunde Spielzeit ist das Werk ungewöhnlich kurz, es ist zudem nur dreisätzig, hebt mit einem langsamen Kopfsatz an, der allein zwei Drittel der Spielzeit verbraucht, und fügt zwei schnelle Sätze hinzu, die in völliger Überdrehtheit enden. Der bekannte Sarkasmus Schostakowitschs kommt in diesem 1939 geschriebenen Werk in besonders scharfer Form zum Ausdruck, befeuert sicherlich durch die schwierigen Lebensumstände in den Jahren seit 1936, als das Leben des Komponisten an kaum mehr als an einem seidenen Faden hing, während Stalin rings um ihn die sowjetische Intelligenzija markant dezimierte. So stellt sich eine der möglichen Deutungen des eröffnenden Largo-Satzes denn auch als die Stille über den Gräbern all der Säuberungsopfer dar, aber eindeutig ist hier eindeutig nichts, bis auf die Tatsache, dass das Gewandhausorchester mit Schostakowitsch meist prima zurechtkommt (den jüngsten Beweis hatte es justament eine Woche zuvor in Mitja II erbracht) und auch der junge Dirigent, der aus einer Generation stammt, die mit Krieg und physischer Bedrohung keine praktischen Erfahrungen mehr hat (von der neuzeitlichen Terrorangst mal abgesehen) und mit Sozialismus respektive Kommunismus auch nicht, sich hervorragend in die Lage des Komponisten einzufühlen in der Lage ist. Erste Anzeichen für eine tiefe geistige Durchdringung sind schon die exzellent fahl bleibenden Mittelstreicher im Einleitungsteil dieses Satzes. Bringuier entwickelt danach einiges an Breite im Klang, die Paukenwirbel erzeugen schon gehörige Dramatik, aber die Kunst besteht dann darin, den Hörer gekonnt über eine ausgedehnte karge Klanglandschaft zu führen. Der Dirigent beherrscht diese Kunst, inszeniert den kurzen Ausbruch so schreckhaft, wie er wohl gedacht war, und nimmt dessen Zusammenbruch als Auftakt für eine Reise in immer downbeatigere Areale. Das Englischhorn darf hier und da noch verirrt wirkende Soli einstreuen, aber das Ganze wird immer unheimlicher, Bringuier rollt den Streicherteppich an der Grenze zur Unhörbarkeit aus und erzeugt damit enorme Eindringlichkeit. Ein butterweiches Solohorn (mit nur einem einzigen Härtefall) löst die Spannung nur kurz, dann versinkt das Satzfinale buchstäblich im Nichts, und diesmal stört kein Huster die angespannte Atmosphäre. Der Umschlag in den Witz des Allegros stimmt von dessen erster Sekunde an, egal ob Schostakowitsch nun Kammermusik oder skurril wirkende Bombastparts mit Xylophon vorsieht. Bringuier und das Orchester verstehen das Ganze offensichtlich als Kriegsgroteske, wenn etwa die Pauke nach dem Tuttizusammenbruch unbekümmert weiterspielt, und das Hin und Her hält bis zum Schlußwitz an. Den gibt es dann im abschließenden Presto-Satz in potenzierter Form. Rossini-Anklänge (die Guillaume Tell-Ouvertüre wird Schostakowitsch in seiner letzten, der Fünfzehnten Sinfonie nochmals hervorzaubern) sind gewiß kein Zufall, das galoppierende Tempo wirkt nicht überhastet, da es durch die Offbeats nur schneller wirkt, als es tatsächlich ist, ein überraschender Groovepart, aus dem Tiefholz kommend, bleibt Episode, und mit dem Tempo kehrt auch der groteske Witz zurück. Diesmal spielt nach dem Tuttizusammenbruch die Große Trommel weiter, Sebastian Breuningers wildes Violinsolo landet planmäßig im Nichts, und im Gegensatz zum erzwungenen Jubel im Finale der Fünften wähnt man sich hier in einem Wiener Neujahrskonzert, wo zu modernisierten Strauß-Klängen gefeiert wird, als gäbe es kein Morgen, das es für viele in der damaligen Lebenssituation ja auch tatsächlich nicht gab. Diesen paradoxen Antagonismus bringen Bringuier und das Orchester in exzellenter Weise auf die Bretter, und der Applaus bricht noch fast in den Schlußton hinein los. Ein emotionaler Moment besonderer Sorte schließt sich an: Die beiden Bratscher Konrad Lepetit und Heiner Stolle – beide schon Orchestermitglieder, als Dirigent Bringuier noch nicht mal geboren war – spielen an diesem Abend ihr letztes Grosses Concert vor dem Eintritt ins Ruheständlerdasein und werden von Kollegen und Publikum mit großer Herzlichkeit verabschiedet. Roland Ludwig |
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