Musik an sich


Reviews
Reich, St. (Pierson)

Tehillim – The Desert Music


Info
Musikrichtung: Minimal Music

VÖ: 13.01.2003

Canteloupe / SunnyMoon
CD (AD DDD 2005 / Best. Nr. CA 21009


Gesamtspielzeit: 74:38



DEFINITIVER MINIMALISMUS

70 Jahre alt ist Steve Reich, einer profiliertesten Gründerväter der amerikanischen Minimalmusic, am 3. Oktober 2006 geworden. Mehr als Grund genug, auf eine nicht mehr ganz neue, aber dafür wahrlich umwerfende Platte mit zwei Hauptwerken des Komponisten hinzuweisen.

1981 entstand Reichs Auseinandersetzung mit seinen jüdischen Wurzeln, die Psalmvertonung Tehillim. Das Werk verbindet die bis dahin in Reichs Musik dominierende mechanistische Ekstase gegeneinander verschobener Phasen mit traditionellen abendländischen Kompositionsmethoden, z. B. kanonischer Stimmführung und Kontrapunkt. Kaum zu glauben, zu welcher poetischen Höhe sich das maschinelle Rattern von Pattern treiben lässt! Über dem von dem biblischen Vorlagen inspirierten Streicher- und Schlagzeugpart lassen die von hohen Sopranen gesponnen Vokallabyrinthe den hebräischen Text regelrecht tanzen. Das Ganze entwickelt eine derartige Sogwirkung, dass man von dem halbstündigen Werk nicht loskommt. „Ha-scha-my-im meh-sa-peh-rim ka-vohd Kail“ - Die Himmel verkünden die Herrlichkeit Gottes. Selten klang das in der Musik so ornamental und abstrakt, gerade wie eine kunstvolle klingende Kaligraphie, und zugleich so hymnisch, fröhlich und doch erhaben. Das finale Halleluja schließlich scheint sich in endlosen Pirouetten bis in den 7. Himmel hinaufzuschrauben. So packend, so sinnlich kann Neue Musik sein!
Ohne den untergegangenen Psalmengesang des Alten Testaments rekonstruieren zu wollen, ist Reich eine bewegende, authentisch anmutende Annäherung an die religiöse Musik seiner Vorfahren gelungen. Der Abgrund der Zeit und des Vergessens wird überzeugend überbrückt.

Reich und sein eingeschworenes Reich-Ensemble haben die Musik für ECM New Series interpretiert. Diese für lange Jahre konkurrenzlose Einspielung hat 2003 einen Nachfolger gefunden, dessen Perfektion Reich selbst ausdrücklich gelobt hat. Unterstützt durch eine makellose, angenehm künstliche Studioakustik musiziert die Gruppe Ossia unter Alan Pierson dieses Schlüsselwerk des Minimalismus mit einer vibrierenden Energie, die selbst auf Verächter von derlei Tapetenmusik überspringen dürfte.
Nicht weniger erfolgreich nimmt sich dann die durch das Ensemble Alarm Will Sound verstärkte Gruppe des Nachfolgewerks The Dersert Music auf Texte von William Carlos William an. Die von Reich kammermusikalisch verschlankte Zweitfassung klingt wunderbar transparent, ohne etwas von der pulsierenden harmonischen Kraft des Originals eingebüsst zu haben.

Für alle Reich-Fans ein Muss. Für all diejenigen, die wenigstens eine „definitive“ Aufnahme mit minimalistischen Meisterwerken abseits des inzwischen arg weichgespülten Mainstreams à la Philipp Glass und John Adams besitzen wollen, die allererste Wahl.



Georg Henkel



Trackliste
01-04 Tehillim 30:51
05-11 The Desert Music 43:47
Besetzung

Ossia
Alarm Will Sound
Ltg. Alan Pierson


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