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Anno 1973 taten sich im Areal nordwestlich des damaligen Karl-Marx-Stadt einige junge Leute zusammen, um eine Band zu gründen. Was erstmal nicht weiter spektakulär anmutet, gewinnt Gewicht durch zwei Faktoren. Zum einen riefen sie nicht irgendeine Band ins Leben, sondern eine, die christliche Texte auffuhr, was in der DDR gleich doppelt schwierig war – man wurde nicht nur von der Staatsmacht kritisch beäugt, sondern nicht selten auch innerhalb der kirchlichen Strukturen, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Zum anderen ist zwar keines der Gründungsmitglieder mehr dabei, aber die mehrfach umbenannte Formation existiert unter dem Namen Adora immer noch und kann anno 2023 folglich ihr 50-jähriges Bestehen feiern. Wer die heutigen Kreativköpfe aus der Familie Munke kennt, der ahnt auch, dass solche Feierlichkeiten keine reine Retro-Veranstaltung werden – im Gegenteil: Der Gig zum 50-jährigen Jubiläum in der heimatlichen Burgstädter Stadtkirche stellt gleichzeitig die Premiere eines neuen Großprojektes dar, nämlich des Musicals „Neues Land. Aus Sachsen nach Amerika“.
Auswanderergeschichten gibt es ja bekanntlich in großer Vielgestaltigkeit; Auswanderungen aus religiösen Gründen nehmen einen nicht allzugroßen, aber doch markanten Platz in diesem Spektrum ein, und in den meisten Fällen geht es um Gruppen, die sich mit den in ihrem Land herrschenden religiösen Verhältnissen nicht mehr abfinden wollen oder aber die aus ebenjenem Grund Unterdrückung oder gar Verfolgung ausgesetzt sind. Da denkt man hierzulande etwa an die französischen Hugenotten, die sich vor allem in Brandenburg, aber auch in der Schweiz und in anderen mitteleuropäischen Ländern ansiedelten, oder an die sich einer Gegenreformation widersetzenden Salzburger, die im frühen 18. Jahrhundert gleichfalls überwiegend im Brandenburgischen eine neue Heimat fanden. Aber die Ziele konnten auch deutlich weiter entfernt liegen. Zahlreiche Mennoniten etwa wanderten nach Rußland aus (einige zogen im späten 19. Jahrhundert sogar noch weiter nach Mittelasien, weil der russische Zar ihre bisherige Befreiung vom Militärdienst aufgehoben hatte), und auch unter denen, die sich den amerikanischen Kontinent als neue Heimat erwählt hatten, gab es religiös motivierte Gruppen. Zu diesen zählten die Anhänger des Dresdner Pfarrers Martin Stephan, dessen eschatologische Weltsicht und orthodoxes Luthertum bei der damals eher rationalistisch und in bestimmten Punkten vergleichsweise liberal eingestellten sächsischen Amtskirche nicht wohl gelitten waren, aber unter der Bevölkerung vor allem Westsachsens einigen Anklang fanden. Nachdem der Verfolgungsdruck seitens der sächsischen Autoritäten zugenommen hatte, entschlossen sich die sogenannten Stephanianer zur Auswanderung nach Amerika. Von den fünf Schiffen erreichten vier den neuen Kontinent, wo aber alsbald die Probleme begannen bzw. weiter zunahmen: Stephan hatte es mit seinem Sendungsbewußtsein mittlerweile übertrieben, außerdem war die Gemeindekasse plötzlich weitgehend leer. Die Neusiedler, die Stephan einige Zeit vorher noch zum Bischof ernannt hatten, setzten diesen nun wieder ab und verbannten ihn, und mit Tatkraft und der Unterstützung anderer Auswanderer konnten sie sich im Raum St. Louis letztlich etablieren. Die damals von ihnen gegründete Lutheran Church – Missouri Synod existiert noch heute und zählt auch nach einer Spaltung, interessanterweise abermals an der Trennlinie zwischen Liberalen und Traditionalisten, wobei diesmal die erstgenannten die Kirche verließen und eine neue gründeten, immer noch zu den größten protestantischen Einzelkirchen der USA, während ihre Geschichte in Deutschland heute weitgehend vergessen und nur von einzelnen, zumeist nonprofessionellen Historikern aufgearbeitet worden ist.
Einen professionellen Historiker, der sich mit diesem Thema befaßt, gibt es aber auch, und der spielt zum Glück bei Adora, womit die Basis für deren neues Musical „Neues Land“ eine feste sein konnte, da Martin Munke in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek in Dresden arbeitet und daher an der Quelle sitzt, was die offizielle Überlieferung über die Stephanianer angeht. Das Ganze wird dann geschickt mit dem Konflikt zwischen der Stephanschen Fundamentalbewegung und der rationalistischen Amtskirche verknüpft, und der Satz aus dem Programmheft, es handele sich um eine Geschichte, „die mitnimmt in eine Vergangenheit, die unserer Gegenwart gar nicht so unähnlich ist“, besitzt eine tiefe innere Wahrheit, da man sich bei so manch einer Textzeile tatsächlich fragt, ob man die 2023 nicht genauso formulieren könnte wie 1838, interessanterweise aber in vielerlei Hinsicht andockbar.
Das besagte Musical besteht aus 17 Musiknummern, die jeweils durch Schauspielszenen miteinander verbunden sind, welchletztere zumeist ohne musikalische Untermalung auskommen, hier und da aber gezielt mit solcher ausgestattet werden. Zur sechsköpfigen Band treten ein Chor und diverse Gesangssolistenrollen, wobei sich personell eine gewisse Flexibilität notwendig macht, so dass etwa auch Lutz Am Ende, der Martin Stephan spielt, im Chor mitsingt, sogar dann, wenn der Chor, also die Gemeinde, seine Absetzung als Bischof beschließt, während die Instrumentalisten gelegentlich wechseln, wenn einer von ihnen als Gesangssolist vorn gebraucht wird. Das System funktioniert allerdings durchaus gut, zumal einige Vor- und Nachspiele geschickt für die Umdekorationen auf der Bühnenfläche im Altarraum genutzt werden, wobei vor dem Altar ein Vorhang hängt, dessen verschiedene Stoffbahnen jeweils den aktuellen Handlungsort zeigen (St. Louis liegt interessanterweise in „America“ – möglicherweise eine bewußte Entscheidung, da es einige Kilometer nordwestlich von Burgstädt ja auch ein Dorf namens Amerika gibt, das für die Geschichte hier allerdings keine Bedeutung hat). Auch die historische Kostümierung paßt sich dem Gesamtbild an.
Musikalisch macht den erfahrenen Komponisten und Arrangeuren aus der Familie Munke – neben Martin noch dessen Vater Andreas als Chefdenker – natürlich niemand etwas vor, und auch im neuen Material beweisen sie ihre Fähigkeiten erneut. Der atmosphärisch-proggige Einstieg in „Am Anfang war das Wort“ mutet zwar fast noch etwas zu unauffällig an, aber der markante Tonartwechsel samt Beschleunigung im Refrain deutet schon an, dass man sich hier auf so manche originelle Idee freuen können wird. „Ein feste Burg“ basiert auf der Jochen-Rieger-Fassung von 2014 und bietet knackigen Poprock, der aber in der Strophe „Das Wort sie sollen lassen stahn“ in eine „klassische“ Version zur Klavierbegleitung umschlägt – die Spielszene zuvor hatte diese Strophe als bewußten Ausdruck des Widerstands des Althergebrachten gekennzeichnet. Ob die etwas schräg anmutende Oberstimme in der letzten Zeile aber auch Absicht war, muß an dieser Stelle offenbleiben. „Fundamentalisten“ wird auch ohne fettes Riffing zu einem druckvollen Stampfer mit einer starken Exzelsior-Struktur im Refrain, und die Chornummer „Da geht ein Riss durch’s Land“ evoziert starken Bombast mittlerer Intensität, gekrönt abermals von einem interessanten Refrain, der beim zweiten Mal auch spielerisch umgesetzt wird – der Chor teilt sich, um den besungenen Riss auch optisch zu verdeutlichen. Das etwas relaxtere „Wachstum“ bietet klassischen Sacropop, und die darauffolgende Spielszene enthält eine klassische Methode, sein Gegenüber mit einem Bibelzitat argumentativ zu erschlagen. „Gehen oder bleiben“ fällt durch markantes Riffing auf und wirkt auch durch seinen Kontrast aus flott rockenden Strophen und abgebremstem Refrain, der erst zum Schluß auch noch in Speed umschlägt. Das flockige Instrumental „Das Gerücht (Präludium)“ endet bewußt mit einem gestört anmutenden Schlußton, der Song „Das Gerücht“ selbst lebt von den zahlreichen Dialogen innerhalb des Chores und einem geschickten Wechsel in einen dreiertaktigen Refrain. „Wertvoll“ bringt das Kunststück fertig, einen schweren Groove leicht wirken zu lassen, und erkundet in seinem Aussagesprung im Refrain die Widersprüchlichkeit des Auswahlprinzips, wer Platz auf den Auswandererschiffen bekommt und wer nicht. Auch „Folge mir nach“ setzt die Zweifel unter den Auswanderern gekonnt in Szene, jedenfalls mit der angedüsterten Musik, nicht aber im Text – ein geschickt arrangierter Widerspruch mit abermals interessanter Refrainharmonik. Das Instrumental „Zur See“ erweitert mit Tin Whistle und Akkordeon die Instrumentenpalette, während der Titeltrack strukturell aus dem Rahmen fällt, da er auf einem originalen Gesangbuchtext der Exulanten von 1838 beruht (neben dem oben genannten alten Lutherlied im neuen Gewand also die einzige Nicht-Eigenkomposition des Musicals) und diesen geschickt in verschiedensten Formen umsetzt, von fugiert-klassisch bis zu speedig-rockend – und das kurze „Child In Time“-Zitat vor Strophe 2 wird bei bekennenden Altrockanhängern wie den Munkes sicherlich auch kein Zufall sein. „Bischof“ erinnert in den bombastischen Zwischenspielen und dem markanten Piano fast an Savatage, wobei Lutz Am Ende die Rolle als Martin Stephan hier noch expressiver gestalten könnte, was er an diesem Spätnachmittag erst nach hinten heraus im Refrain andeutet. Das Instrumental „Missouri“ fällt durch seine markante Baßarbeit auf, und über das deutlich weniger auffällige „Denn Wahrheit ist allein bei Gott“ erreichen wir die Konklusion des Konflikts in der feisten Rocknummer „Wer sich selbst erhöht“, ehe „Gott führt zum Ziel“ das Werk mit klassischem Sacropop abschließt. Diese Nummer könnte auch problemlos ein Eigenleben jenseits des Musicals zu führen beginnen und endet mit einem instrumentalen Outro, bei welchem dem Rezensenten noch nicht eingefallen ist, woran es ihn erinnert. Lauter Jubel und Standing Ovations belohnen die Mitwirkenden an dem knapp zweistündigen Werk, so dass Adora noch „Oh Happy Day“ als Zugabe auspacken, ohne Schlagwerk, aber mit Andreas Munke als Vorsänger.
Das Soundgewand in der durchaus nicht einfach zu beschallenden Kirche weiß über weite Strecken zu überzeugen – klar durchhörbar und doch powervoll, wo nötig. Lediglich einige Instrumentalsoli landen ein wenig zu weit im akustischen Hintergrund, wobei der Rezensent wie immer in solchen Fällen nur von seinem Standplatz aus urteilen kann, und der ist in diesem Fall hinten auf der Orgelempore, also in nahezu maximaler Entfernung von der Band. Bei der Geschichte selbst fällt wie bereits erwähnt auf, dass da die kundige Hand des Historikers mitgewirkt hat – nicht zur Sprache kommt allerdings, dass Stephan in einem späteren Wiederaufnahmeverfahren zumindest von einigen der Vorwürfe (die u.a. auf unzüchtiges Leben und Veruntreuung des Gemeindevermögens lauteten) freigesprochen worden sein soll, was freilich dramaturgisch in der gegebenen Konstellation eher schwierig umsetzbar gewesen wäre. Dieser Aspekt beeinträchtigt die Gesamtwirkung von „Neues Land“ jedenfalls nicht – dem Werk ist eine weite Verbreitung zu wünschen und Adora ein herzliches „Auf die nächsten 50 Jahre!“ zuzurufen. Dass mittlerweile auch schon die dritte Munke-Generation mitwirkt (Emma und Paula spielen zwei Auswandererkinder), darf als gutes Zeichen für den langfristigen Fortbestand gewertet werden.
Roland Ludwig
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