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Johannes-Passion. Gemischte Fassung
Info
Musikrichtung:
Barock Oratorium
VÖ: 12.03.2010 (Zig Zag / Harmonia Mundi 2 CD / DDD / 2009 / Best. Nr. ZZT 100301.2) Gesamtspielzeit: 116:29 |
ZU DRUCKVOLL
Obwohl Benoît Haller und Sigiswald Kuijken beide den gleichen Ansatz, nämlich eine solistische Vokalbesetzung bei J. S. Bachs Chorwerken pflegen, liegen sie auf diesem Feld klanglich und ästhetisch ungefähr so weit voneinander entfernt wie der Nord- vom Südpol. Steht Kuijken mit seiner Matthäus-Passion für Verinnerlichung, Geistigkeit und Konzentration, so darf Hallers Johannes-Passion die gegenteiligen Attribute für sich in Anspruch nehmen: Expression, Körperlichkeit und Dramatik. Das liegt gewiss auch in der Musik selbst begründet. Denn die ältere Johannes-Passion gibt sich in vielem extremer, auch experimenteller. Sie irritierte in der 1. Fassung die Leipziger Zuhörerschaft durch ihren alles andere als still-erbaulichen Impetus so sehr, dass Bach sich zu Änderungen genötigt sah und z. B. den leidenschaftlichen Eingangschor bei einer späteren Aufführung zunächst durch einen maßvolleren ersetzte: O Mensch, bewein dein‘ Sünden groß, diese Bearbeitung aber später wieder rückgängig machte. Auch unter den Arien tauschte der Komponist mehrfach Stücke aus. Auf gewisse Weise blieb die Johannes-Passion ein „work in progress“ in vier verschiedenen Fassungen, das nicht den Vollendungsgrad der Matthäus-Passion erreichte.
Haller hat sich mit La Chapelle Rhénane für eine interessante Mischfassung vor allem aus den Versionen I/IV und II entschieden, in der Hoffnung, so die insgesamt überzeugendste zu kreieren. Das bringt einige überraschende Lesarten, z. B. die Arie Ach windet euch nicht so, geplagte Seelen (nach der Geißelung Jesu, die das weit bekanntere, subtile lautenbegleitete Doppel aus Arioso und Arie Betrachte mein Seel/Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken ersetzt). Eine Entdeckung sind auch die affektbetonten und virtuosen Arien Himmel reiße, Welt erbebe, fallt in meinen Trauerton (nach dem Verhör) und Zerschmettert mich, ihr Felsen und Hügel (nach der Leugnung des Pilatus statt Ach mein Sinn).
Insgesamt hat Haller vor allem solche Stücke ausgewählt, die seinem eigenen expressiven Ansatz entgegenkommen, während Bach in der letzten Fassung IV mit Bedacht den betrachtenden Stücken den Vorzug gegeben hat. Bei Haller freilich geht es, Kleinstbesetzung hin oder her, in einer Weise zur Sache, die selbst Liebhaber großer Besetzungen zufrieden stellen dürfte, wenn sie denn vor allem auf äußere Dramatik wert legen.
Schon die ersten Takte des monumentalen Eingangschores Herr, unser Herrscher zeigen eine Vorliebe für ein massives Bassfundament (inkl. Kontrafagott!) und eine perkussive Streicherattacke à la Carl Orff, deren geräuschintensive Dramatik sich in der Folge leider schnell abnutzt. Dazu kommt eine überpräsente Akustik, die die Proportionen verzerrt. Dass bei den Chören im Grund nur ein Oktett singt, merkt man praktisch kaum, zumal die Ausführenden einen gesteigerten Ausdruck pflegen, der bei den Sopranen auch schon mal forciert wirkt (Vibrato). Zwar heulen und gellen die „Kreuzige“-Chöre ganz gewaltig und die zunehmende Stauchung der Tempi z. B. bei Bist du nicht seiner Jünger einer oder Weg, weg mit diesem bildet die sich steigernde Massenhysterie plastisch ab. Doch der Effekt ermüdet auf Dauer, weil die Musik dabei so unscharf und mulmig wirkt (die Instrumente mischen im Hintergrund mit). Das ist auf Dauer einfach zu viel des Guten.
Relative Ruhepunkte sind die Choräle und Arien. Doch auch da neigt Haller zur Übertreibung, z. B. bei Eilt, ihr angefochtnen Seelen. Der eindimensionale Drohklang des Basses und die gehetzten Streicherfiguren konterkarieren die Aussage des Stückes (welche „Wohlfahrt“ soll da bitte auf Golgatha blühen?). Julian Prégardien ist ein leidenschaftlicher, mitfühlender Evangelist; der Jesus von Benoît Arnould gibt sich im Disput mit Pilatus einmal ganz unpastoral und emotional. Dominik Wörner mimt einen angemessen arroganten Pilatus. In den Brechungen wohlfeiler „frommer“ Interpretationsmuster liegt gewiss das Potential der Einspielung. Weniger Nachdruck wäre dabei aber mehr gewesen.
Georg Henkel
Trackliste
CD II: 76:40
Besetzung
Julien Freymuth, Pascal Bertin: Altus
Julian Prégardien, Michael Feyfar, Philippe Foreliger: Tenor
Benoît Arnould, Dominik Wörner: Bass
La Chapelle Rhénane
Benoît Haller: Leitung
So bewerten wir:
00 bis 05 | Nicht empfehlenswert |
06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |