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Reviews

Brundelli, A. - Peri, J. - Caccini, G. u.a. (Pinchon, R.)

Stravaganza d'Amore! - The Birth of Opera at the Medici Court


Info

Musikrichtung: Renaissance Ensemble

VÖ: 22.05.2017

(Harmonia Mundi / Harmonia Mundi / 2 CD / DDD / 2016 / Best. Nr. HMM 902286.87)

Gesamtspielzeit: 122:38

DIE PRACHT UND DIE HERRLICHKEIT

Mit dieser prächtigen Einspielung katapultieren Raphaël Pichon und das Ensemble Pygmalion den Hörer direkt in das Florenz des späten 16. Jahrhunderts, an den Hof der kunst- und prunkliebenden Medicifürsten. Auf dem Programm steht eine Auswahl der schönsten und spektakulärsten Szenen aus den damals in später Blüte stehenden Intermedien.
Diese wurden als Renaissance-Gesamtkunstwerke aus Gesang, Instrumentalmusik und allerei anderen sinnenstimulierenden Effekten in Form von "lebenden Bildern" zwischen den Akten von Schauspielen gegeben. Was ursprünglich als sinnlich-sinniger Pausenfüller gedacht war, entwickelte sich mit der Zeit zu einem immer größeren Spektakel, zu einem Augen- und Ohrenschmaus, der schließlich den eigentlichen Anlass in den Hintergrund treten ließ.

Die Intermedien dienten den Komponisten am Medici-Hof zugleich als Labor, um neue musikalische Formen zu erproben. Die besten damals verfügbaren Künstler wurden dazu verpflichtet. Heute sind die Herren Giulio Caccini, Emilio de'Cavalieri, Luca Marenzio, Jacopo Peri oder Alessando Striggio und andere wenig bekannt. Dank ihrer spendablen Mäzene konnten sie auf große Chöre und Orchester zurückgreifen und so brachten sie alles aufs Podium was damals an instrumentalem und vokalen Virtuosentum verfügbar war.
Da finden sich ein-, zwei- oder dreichchörige Stücke mit Echo-Effekten, Solo- oder Ensembleeinlagen, dazu instrumentale Sinfonie mit großer Bläserbesetzung oder virtuos ausgezierte Instrumentalsoli als Teil von "Instrumental-Madrigalen" und natürlich zahlreiche Tänze, das Ganze gerne auch in Kombination. Wir erleben den späten Triumph der Renaissance-Polyphonie und -Orchesterkunst, die hier noch einmal in ganzer Größe zelebriert wird.

Bei aller Kunstfertigkeit hört man freilich nicht elitäre Klänge für die fürstliche Kammer. Vielmehr präsentieren sich die Intermedien als gelungene Mischung von Erhabenem und Burlesken, Ergreifendem und Anmutigem. Das sind überaus ohrengängige Spektakel, die auf Breitenwirkung anglegt waren - vielleicht nicht zum sofortigen Mitsingen, aber mit vielen Melodieen, die später auf den Straßen Karriere machten.
Neben den großen vielstimmigen Besetzugen finden sich erste Stücke ausdrücklich für Solostimme. Aus diesen generalbassbegleiteten Monodien entwickelte dann die nächste Generation der Komponisten die Oper als komplett durchgesungenes Schauspiel. Monteverdis Opernerstling "Orfeo" von 1607 liegt praktisch "um die Ecke".

Girolamo Bargaglis Intermedien zu La Pellegrina von 1589 gelten gemeinhin als Höhepunkt der florentiner Intermedienkünste. Sie wurden auch schon in Gänze eingespielt, zuletzt von Skip Sempé und seinem Capriccio Stravagante Renaissance Orchestra sowie dem Collegium Vocale Gent (Paradizo).
Raphaël Pichon hingegen kombiniert frei ausgewählte Teile verschiedener Intermedien zu vier Kurz-Intermedien: "All'imperio d'Amore"; "La Favolla d'Apollo"; "Le Lagrime d'Orfeo"; "Il Ballo degli Amanti". Es geht ihm nicht um eine Rekonstruktion eines bestimmten Events, sondern um ein Panorama, das unter dem sprechenden Titel Stravaganza d'Amore! die musikalische Welt des späten 16. Jahrhunderts beschwört und den heutigen Hörer unmittelbar eintauchen lässt in die Sinnlichkeit der Intermedien. Dass man dazu gleich ein kunstvoll gestaltetes Buch bekommt, ist ein Extra, dass das Vergnügen an dieser Aufnahme noch steigert - sofern dass jenseits der rein klanglichen Belange noch nötig oder gar möglich ist. (Es sei allerdings bemerkt, dass die Entnahme der CDs etwas fummelig und kratzeranfällig ist ...)

Pinchon und sein Ensemble bringen das moderne Publikum an den Boxen wahrlich zum Staunen. Es dürften sich nur wenige Aufnahmen dieses Repertoires finden, die die Pracht und Herrlichkeit dieser Musik derart überwältigend und mit einem solchen Gespür für ihre theatralische Kraft präsentieren wie hier. Bemerkenswert der pointierte Einsatz der Klangfarben und die kraftvolle Dramatik bei den Solopartien, die den Text emphatisch deklamieren und zugleich jede melodische Phrase auskosten. Unter den Solostimmen ragt noch einmal Renato Dolcini heraus, der als Apollo und Orpheus durch Beweglichkeit und mitunter ergreifend schmerzlichen Ausdruck besonders berührt. Doch einmal abgesehen von den tadellosen Leistungen der virtuosen Musiker, der ausgezeichneten übrigen Solisten sowie der herrlichen Chöre ist es auch die famose Aufnahmetechnik (Hugues Deschaux, Olivier Rosset), die dafür sorgt, dass diese Produktion einen solchen Effekt macht.
Einerseits hat man den Klang sehr direkt und gleichsam mit gespitzten Mikrophonohren für jedes einzelne Instrument aufgenommen (man hört sogar das Gebläse der Truhenorgel leise rauschen). Andererseits ist es gelungen, den Klang sehr räumlich zu projizieren und daraus einem manchmal überwältigenden Gesamtklang zu komponieren. So gelingt es, dem modernen Hörer auch ohne spektakuläre Szenenbilder in die Musik hineinzuziehen und zu verzaubern.

Eine Aufnahme, die Maßstäbe setzt und erneut zeigt, dass es um den musikalischen Nachwuchs in der Alten Musik Frankreichs bestens bestellt ist!



Georg Henkel

Besetzung

Solisten: Renato Dolcini, Luciana Mancini, Sophie Junker, Maïlys von Villoutrey, Zachary Wilder, Lucile Richardot, Virgile Ancely, Deborah cacher, Davy Dornillot, Safir Behloul, Renaud Bres, Nicolas Brooymans

Chor und Orchester "Pygmalion"

Raphaël Pichon: Leitung
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