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Die Soldaten
Info
Musikrichtung:
Oper / Neue Musik
VÖ: 22.04.1991 Teldec / Warner Classics 2 CD DDD (AD 1988/89) / Best. Nr. 9031-72775-2 Gesamtspielzeit: 107:07 |
AVANTGARDE-ROMANTIKER
KLANGAPOKALYPSE UND DIE KUGELGESALT DER ZEIT
Kakophonie in hundertfacher Potenz, fokussiert lediglich durch unerbittliche Paukenschläge. So beginnt Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) „unspielbare“ Oper Die Soldaten (UA 1965) nach einem Theaterstück des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792).
Das ist zugleich musikalischer Urknall und apokalyptische Entropie des Klangs, superpolyphone Eruption und alles verschlingender Tonstrudel, ins Werk gesetzt von einem riesenhaften Orchesterapparat.
In streng serieller Organisation wird hier eine unüberschaubare Fülle von Musiken, Klängen und Melodie-Fragmenten auf fünf Minuten konzentriert. Die Schläge der Pauke bezeichnen weniger das Voranschreiten in der Zeit als ein ruckartiges Innehalten, ein Zusammenzwingen des eigentlich Unvereinbaren.
Dieses Preludio ist programmatisch für die Oper und für Zimmermanns Ästhetik insgesamt: Die philosophische Idee von der „Kugelgestalt der Zeit“, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen, so dass es kein Vorher und Nachher, sondern nur den einen, absolut erfüllten Moment kennt, wird sinnfällig.
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen realisiert sich unter anderem durch die Collage musikalischer Idiome unterschiedlichster Epochen: Bachchoral und Jazz, Marsch und Walzer oder Zitate aus der klassischen Sinfonik tauchen immer wieder in den abstrakten seriellen Klangwelten auf.
VON DER ENTMENSCHLICHUNG DES MENSCHEN DURCH DEN MENSCHEN
Dass dieser unendlich-erfüllte Moment nicht tönendes Abbild eines himmlischen Paradieses, sondern eine totalitär organisierte, gleichwohl chaotische Klanghölle ist, aus der es keinen metaphysischen Ausweg mehr gibt, wird zum Vorzeichen für das nachfolgende Drama: Die Geschichte der Bürgerstocher Marie, die vom adeligen Offiziers Desportes verführt wird und schließlich als Hure in der Gosse endet, war von Lenz ursprünglich als Kritik auf die seinerzeit erzwungene Ehelosigkeit des Soldatenstandes geschrieben worden: das soziale System als unbarmherzige Maschinerie, die Menschen zerstört.
Zimmermann eliminierte den Zeitbezug (Eheverbot) und wendete die Geschichte dadurch ins Zeitlose: ein Drama von der Entmenschlichung des Menschen durch den Menschen, in der alle zugleich Täter und Opfer sind, verstrickt in einen einzigen, unauflösbaren und tragischen Schicksalszusammenhang.
Daher die Superorganisation der Musik und die Materialschichtungen. Daher auch die ursprüngliche Idee, das Auditorium bei einer Aufführung in die Mitte zu setzen und das Werk rundum auf mehreren Bühnen simultan zu spielen: Die Kugelgestalt der Zeit spiegelt sich im Kugelraum des Theaters. Und deshalb auch die Geräuschzuspielungen vom Tonband (elektronische Klänge, Rotorenrauschen, Marschtritte) und die Filmprojektionen. Doch selbst die vereinfachte, hier eingespielte Version transportiert noch die Komplexität von Zimmermanns Erstfassung, die zunächst als unspielbar zurückgewiesen worden war.
DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG
Zimmermanns große Oper atmet gewiss auch etwas vom Zeitgeist der 60er Jahre: Den Anspruch der musikalischen Avantgarde, mit der Tradition zu brechen, hat das Projekt ebenso beflügelt wie - eigentlich paradox - ein letztes Nachbeben romantischer Opernvisionen. Zimmermann erneuerte Wagners Gesamtkunstwerk für das 20. Jahrhundert und lässt es zugleich in pathetischen Dissonanz- und Geräuschballungen untergehen.
Der gesellschaftskritische Moment, das Aufklärerische und Pädagogische muten heute etwas gezwungen an. Und der totalen sinnlichen Überwältigungsstrategie, die dem Zuschauer/hörer kein Entrinnen ermöglichen soll, haftet genau jene Gewalttätigkeit an, die das Werk anprangert. Auch das gehört zur „Dialektik der Aufklärung“.
Aber Die Soldaten sind eben doch mehr als das: ausdrucksvolle, ungemein dramatische, manchmal sogar dionysisch erregende Musik. Der musikalische Irrwitz hat doch Methode, in den abstrakten seriellen Operationen des überdichten Notenbildes entstehen vielschichtige musikalische Charaktere, die lieben, hassen, leiden und hoffen - die Voraussetzung für Identifikation und Mitleiden beim Hörer. Und bei aller Klangzertrümmerung ist das Werk doch auch Ausdruck einer Hoffnung auf Erlösung - mag das erschütternde Schlussbild der Oper auch einen nachschwarzen Pessimismus verkünden.
Unter der Leitung von Bernhard Kontarsky versammelte sich Ende der 80er Jahre im Staatstheater Stuttgart ein famoses Solistenensemble und präsentierte Zimmermanns Riesenwerk als großes, aufregendes Musiktheater. Von den Sänger/innen werden die immens schwierigen Gesangspartien souverän gemeistert und in so etwas wie „seriellen Belcanto“ verwandelt. Das Orchester realisiert die Klangmassierungen und zarten Momente mit nicht nachlassender Perfektion und Intensität. Und auch die verantwortlichen Tontechniker haben Großartiges geleistet.
Georg Henkel
Besetzung
Nancy Shade (Marie)
Milagro Vargas (Charlotte)
Michael Ebbecke (Stolzius)
William Cochran (Desportes)
Klaus Hirte (Haudy)
Raymond Wolansky (Mary)
Urszula Koszut (Gräfin de la Roche)
u. a.
Chor des Staatstheaters Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Ltg. Bernhard Kontarsky
So bewerten wir:
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06 bis 10 | Mit (großen) Einschränkungen empfehlenswert |
11 bis 15 | (Hauptsächlich für Fans) empfehlenswert |
16 bis 18 | Sehr empfehlenswert |
19 bis 20 | Überflieger |