Musik an sich


Editorial

Hans Werner Henze, der jetzt im Alter von 86 Jahren in Dresden gestorben ist, war kein typischer Komponist der Nachkriegsavantgarde. Aber was heißt schon typisch? Henzes Kollegen Karlheinz Stockhausen († 2007) und Pierre Boulez mögen das das Komponieren mit vorstrukturierten Reihen bis an die äußerste Grenze vorangetrieben haben – aber die musikalischen Ergebnisse sind so individuell, dass man allenfalls von einem gemeinsamen technischen Ausgangspunkt sprechen kann. Untypisch sind auch die von Wahrscheinlichkeitsrechnungen bestimmten Cluster- und Glissandi-Musikarchitekturen eines Yannis Xenakis († 2001). Oder die mikroskopischen Klangfarbenstudien des späten Luigi Nono († 1990). Oder die zarten Klangmuster, die Morton Feldman gewoben hat († 1987). Wenig verbindet Helmut Lachenmans geräuschhafte Instrumentalmusik mit György Ligetis († 2006) schillernden Klangfarbenräumen und rhythmischen Geflechten. Die minimalistischen Patterns eines Steve Reich sind allenfalls typisch, für Steve Reich. Die Musik seines Minimal-Kollegen Philipp Glass klingt inzwischen fast wie Puccini …

Henze mag seinerzeit die Wurzeln der Tradition deutlicher als die anderen betont haben. Aber auch Boulez und Stockhausen haben wie viele andere die radikale Strenge des Anfangs aufgegeben. Bei Stockhausen gab es am Ende nichts, was in die serielle Musik nicht integrierbar gewesen wäre. Und selbst der aus dem schwäbischen Pietismus stammende Lachenmann entdeckte irgendwann die Oper.

Also: Typisch war in der Musik aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts eigentlich gar nichts mehr und das machte sie so spannend. Dass 2012 der 100. Geburtstag von John Cage († 1992) in zahllosen Konzerten und CD-Veröffentlichungen geradezu großmeisterlich gefeiert wird, zeigt aber auch, wie die Zeit vergangen ist. Nach und nach sind die einstigen Musikrevolutionäre jubiläumswürdig geworden. Karlheinz Stockhausens Oper Mittwoch aus Licht wurde gar für angemessen befunden, das diesjährige Kulturprogramm der Olympischen Spiele zu krönen. In der immer wieder anderen Verbindung von Stimmen, Instrumenten oder elektronischen Klängen konnte man dann hören, was in der Neuen Musik so alles möglich ist. Als Helikopter-Streichquartett kann sie sogar spektakulär vom Boden abheben.

Die meisten der oben genannten Komponisten, die nach der Stunde Null von sich hören ließen, sind inzwischen selbst wieder historisch geworden. Sie sind Meister einer wilden, von rechten und linken Ideologien bestimmten Epoche voller Entdeckungen und Erfindungen, wie sie in dieser Form wohl nicht mehr wiederholbar ist. Die jüngeren Komponisten arbeiten sich in aller Freiheit am Reichtum dieses Erbe ab, ohne dass sich daraus neue große Musik-Systeme entwickelt haben. Die Vereinzelung setzt sich fort, zwischen Strenge und Offenheit ist alles möglich.

Daneben summt und brummt der klassische Mainstreambetrieb trotz mancher Krisen und Fusionen weitgehend unangefochten vor sich hin. Allenthalben erscheinen Boxen mit Beethoven-Sinfonien, als sei hier immer noch nicht alles gesagt. Und wo die alten Meister nichts mehr hergeben, entdeckt man auch noch die allerkleinsten Kleinmeister und erweckt sie wieder zum Leben. Was für ein Luxus ist das oft – und was für eine Ödnis, wenn eine Wiederholungsschleife der nächsten folgt. Dass die Tonalität tatsächlich verbraucht sein könnte, dämmert auch manchem eingefleischten Pop- und Klassikliebhaber. Da schließt sich dann der Kreis auch mit vielen neuen und neuesten Stücken, die sich aber häufig in ein paar schrägen Formeln erschöpfen und ihrerseits Klischees bedienen.

Aber wie viele barocke Concerti mussten von unzähligen Komponisten geschrieben werden, damit am Ende wenigstens J. S. Bachs sechs Brandenburgische herauskamen? Echte Meisterschaft ist eben selten - also auch eher untypisch.

In diesem Sinne versuchen wir auch in der neuen Ausgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen und einen Pfad durch das undurchdringliche Dickicht der Neuerscheinungen zu schlagen. Zahlreiche Artikel widmen sich den bewährten Klassikern: Bob Dylan, Iron Maiden und Bob Marley. Wie man als Metal-Band die DDR überlebte, davon erzählen im Interview die Mitglieder der Band Macbeth. Die Augsburger Band The Seer, die nach zwei Jahrzehnten im Geschäft ebenfalls einen gewissen Klassikerstatus beanspruchen darf, hat ein neues Album veröffentlicht. Und unter den Buchbesprechungen wartet das Songbook der klassischen Ärzte Ärzte auf Leser, die das aktuelle Album auch gleich miterwerben wollen …

Viel Spaß beim Anregen, Aufregen, Auflegen und Anhören wünscht

Georg Henkel